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Mensch und totaler Staat

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Das vorliegende Buch eines Österreichers, der vor seiner Flucht aus der 1938 „nationalsozialistisch gewordenen Ostmark“ diese in ihren Anfängen erlebte, ist mit dem Untertitel: Der Deutschen Alltag unter Hitler, vielversprechend und interessant. Interessant müßte es vor allem für jene Österreicher sein, die in den dreißiger und vierziger Jahren geboren sind, diesen Alltag nicht erlebten und die jetzt bereits zu einer arrivierten Schichte der Erfolgsgeneration an der Spitze gehören; und für die nicht geringe Zahl derer, die kurz nach dem Jahr 1938 diesen Alltag verlassen haben, um viele Jahre im Feld oder hinter Stacheldraht zu verbringen. Aber gerade in dieser Hinsicht ist dieses sehr grundsätzlich geschriebene Buch keine Information über den Menschen im Alltag des Dritten Reiches, sondern eine Interpretation der Präsenz des herrschenden Systems in allen Bereichen von Staat bis Kirche, von der Kunst bis zur Wirtschaft. Eine Erkundung zudem, deren Quellenmaterial ergänzungsbedürftig zu sein scheint. So fehlt zum Beispiel, was den Katholizismus betrifft, die Dokumentation „Priester vor Hitlers Tribunalen“, die an Hand der Akten der Gerichte, der Polizei und des SD einen ersten Uberblick über die Exekutionsmaßnahmen gegen Priester und Ordensschwestern bringt.

Der Alltag unter dem Totalitarismus ist nicht nur der relative Erfolg dieses Systems bei der versuchten Besitzergreifung des Menschen; bei der bürokratischen Einhämmerung einer Staatskultur; bei der von großen wie kleinen Diktatoren gehand-hab'ten Terrorisierung. Dem Totalen Staat ist es unter Stalin und Hitler nicht gelungen, dem Menschen jenes Unconditional Surrender vollends aufzuzwingen, das die Sieger von 1945 den mit einer Kollektivschuld beladenen Menschen abverlangten und bekamen.

In einem Gespräch, das Carl J. Burckhart mit Ortega y Gasset nach 1945 führte, erinnerte der damals im Exil lebende Spanier an eine Beobachtung: Die jetzige Krise des europäischen Lebens findet in so-verborgenen Seelenschichten statt, daß kein Krieg, und sei es der ungeheuerlichste, zu ihnen vordringen kann. Die längste Zeit schienen nachher derlei Ansichten eher „oberflächlich“ zu sein und im krassen Widerspruch zum Anblick jener Hekatomben von Leichen, die 'der totale Staat des Stalinismus und des Hitlerismus hinterlassen hatte. Der vulgäre Antikommunismus der vierziger und fünfziger Jahre, quasi das Rückgrat der Resistance der freien

Welt des Westens, wurde daher von ganz anderen Vorstellungen genährt. Es dauerte Jahre, bis man im Westen einsah, daß Menschen unter dem Kommunismus meistens ganz anders sind, als sie im Image des Homo sovieticus aussehen. Und als Ende der fünfziger Jahre das Klima des kalten Krieges für vorübergegangen und der Antikommunismus als neue Form des Rech'tsextre-mismus und der Reaktion deklariert wurde, war nicht nur eine Marx-Renaissance fällig, sondern die Revolution gegen ein quasi neues faschistoides Establishment der

Fortsetzung des Hitlerismus von gestern. Diese Welle war so etwas wie ein Remplacement für vorherigen Antimarxismus und Antikommunis-mus in jenen mittleren und oberen Schichten begüterter und intellektueller Kreise, die sich vorher im Antikommunismus überpurzelt hatten. Nur mühsam kommt gegen diese vorwiegend von dritter Seite inspirierte politische und parteitaktische Imagefabrikation eine wissenschaftliche, zumal eine kultursoziologische und anthropologische Forschung an, die nicht den Hitlerismus von gestern als Popanz für heute reproduziert, sondern das geschichtliche Bild, as it is, freilegt.

Angesichts der in vielen Teilen der Dritten Welt heraufkommenden neuen Wellen des Rassismus, Nationalismus und Nationalbolschewismus, Militarismus, Totalitarismus usw. ist es nicht nur ein Irrtum, sondern gefährliches Unterfangen, den Hitlerismus quasi als Sündenbock in die Wüste zu schicken, hoffend, daß wir nach ihm derlei Irrtümer und Verbrechen im Zeitalter der Demokratie nicht erleben werden können. Im Gegensatz zu solchem Futurismus diagnostiziert die Psychiatrie derzeit eine „Brutali-sierung der modernen Gesellschaft“', und kein geringerer Experte als Herbert Marcuse bezeichnet diese Beobachtung als „unwidersprech-lich“.

Und noch etwas angesichts des Tenors vieler Schulbücher: Die „in der Ära des Nationalsozialismus hoffnungslos kompromittierte Vätergeneration“ war keine Horde von Verbrechern samt Clique und Claque, die die Helden der Resistance niedermetzelte (während die anderen hinsahen). Sie wollten Menschen sein und das zuerst und zuletzt angesichts der von links und rechts einstürmenden Kavalkaden der Ideologien und ' ihrer totalitären Experimente mit der Macht. Das wahre Bild der Väter und Mütter jener Tage, ihrer Söhne und Töchter mit ihren Hoffnungen und Ängsten, Wünschen und Befürchtungen ist noch nicht geschrieben. Die Ideologien der deutschen Romanliteratur von Grass bis Boll drücken es jedenfalls ebenso schlecht aus wie gewisse Produkte aus der Landsererinnerung oder die Autobiographien der „großen“ Männer und Frauen von damals. Das fragliche Bild vom Menschen ist letzten Endes kein Betreff literarischer Qualität, sondern Ausdruck der Wahrheit. Und dieser bedürfen derzeit nach allen Enthüllungen und Verschleierungen jüngsten Datums nicht nur die Deutschen bei weitem mehr, als der Konsumgüterfülle und weiterer Versprechen betreffs Produktivitätssteigerung.

DAS ZWÖLFJÄHRIGE REICH (DER DEUTSCHE ALLTAG UNTER HITLER). Von Richard Grunber-g e r. Verlag Fritz Molden, Wien

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