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Menschen mit vollen Rechten

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Die Menschen, die jeden Morgen in der Wiener Rueppgasse den in zweiter Spur haltenden Kleinautobussen entsteigen, wissen nicht, daß sich in dieser Woche ein internationaler Kongreß mit ihrem Schicksal beschäftigt. Und soweit sie gehört haben, daß 1500 Delegierte aus 66 Ländern in der Wiener Hofburg beraten, was man für sie tun kann, tun muß, können sie sich wenig darunter vorstellen.

Der erwähnte Weltkongreß ist der siebente der 1960 gegründeten internationalen Liga von Vereinigungen zugunsten geistig Behinderter, und die für Vorbereitung und Organisation verantwortliche österreichische Organisation ist ihrerseits ein Dachverband, der „Lebenshilfe für Behinderte“ heißt und acht Landesvereine umfaßt. Acht, nicht neun. Im Burgenland bestehen erst zwei lokale Lebenshilfe-Vereinigungen. Die Mitglieder: Betroffene Eltern - und Erzieher.

Die 26 drei- bis siebenjährigen Kinder (manche Siebenjährige unter ihnen wirken wie drei) und die 99 Erwachsenen und Jugendlichen, die jeden Morgen in der Rueppgasse im zweiten Bezirk eintreffen, müssen auf dem Weg sorgfältig beaufsichtigt werden, denn sie sind dem modernen Großstadtverkehr nicht gewachsen.

Nur ganz wenige besonders Selbständige kommen allein. Manche werden von ihren Angehörigen mit der Straßenbahn hergebracht, manche im Auto, ein Teil mit den Kleinautobussen, die noch immer in zweiter Spur halten müssen, weil eine zu ihren Gunsten zugesagte Parkverbotszone noch nicht verwirklicht ist. Nur wenige Passanten drehen sich hier nach ihnen um. Die Bewohner der Rueppgasse kennen sie schon.

Außerdem, und damit wären wir wieder beim Kongreß mit dem Generalthema „Entscheidungen“, wandelt sich das Verhältnis zwischen geistig Behinderten, deren Angehörigen und der Öffentlichkeit. Österreich schneidet dabei gut ab. Eine Erhebung über die Einschätzung geistig Behinderter durch Nichtbetroffene

ergab in Österreich eine wesentlich freundlichere Einstellung als etwa in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich und Belgien. Vor allem jüngere Menschen zeigen nicht mehr so starke Abwehr. Noch sind die Abwehrmechanismen stark, aber der Trend weist auf ihren Abbau.

Auf der anderen Seite wächst die Zahl der gesunden Kinder, die sich

für ihre geistig behinderten Geschwister nicht mehr so stark schämen, dies zumindest verbergen, und vor allem der Prozentsatz von Eltern, die zu ihren geistig behinderten Kindern stehen. Bewirkt wurde diese positive Entwicklung vor allem durch eine wohlwollende Berichterstattung über geistig Behinderte und deren Probleme in den Medien, vor allem im Fernsehen. Woraus hervorgeht, was sich via Bildschirm erreichen läßt - wenn man nur will und die Verantwortung erkennt.

Es könnte freilich sein, daß sich dieser positive Trend sofort wieder umkehrt, wenn man mit der Aufklärung und Erziehung der Öffentlichkeit nachläßt, denn deren Reaktion auf pädagogische Bemühungen ähnelt in mancher Beziehung (und manchmal zum Verzweifeln) der geistig Behinderte: Die Bildungsfähigkeit ist vorhanden, groß ist aber leider auch das Tempo, in dem Erworbenes wieder verlorengeht.

Intensive und aufopfernde Förderung erzielt heute im Einzelfall Fort-

schritte, die man noch vor wenigen Jahrzehnten für unmöglich hielt. Oft genügt aber ein vor dem Fernsehschirm verbrachter Urlaub, um die Arbeit von Monaten wieder zunichte zu machen. (Fernsehen ist in vielen Familien mit Behinderten ein beliebtes Mittel zur Ruhigstellung.)

13 Therapeuten und Betreuer, fünf Kindergärtnerinnen mit zwei Kindergartenhelferinnen, ein Arzt sowie Fachleute für Musiktherapie und Logopädie (Spracherziehung), nicht zu vergessen drei jugoslawische Raumpflegerinnen, deren Einsatzfreude und Menschlichkeit in der Rueppgasse besonders gerühmt wird, betreuen dort 125 Menschen, acht Stunden täglich.

Sie werden in diesen acht Stunden voll gefordert - und dieser (absolut notwendige) Aufwand illustriert das ganze Ausmaß eines Problems, das die Öffentlichkeit noch kaum zur Kenntnis nimmt, das auch verständnisvolle öffentliche Stellen gern ein bißchen verdrängen. Denn die 125 geistig Behinderten in der Rueppgasse sind nur, sozusagen, die Spitze eines Eisbergs.

Sie sind 125 von rund 45.000 geistig und meist auch mehrfach behinderten Österreichern, die zu selbständiger Lebensführung nicht in der Lage sind. Im internationalen Durchschnitt sind drei Prozent aller Menschen durch hirnorganische Defekte in irgendeiner Form behindert, ein Fünftel davon - 0,6 Prozent -schwerst.

Aber nur jeder zwanzigste „Fall“ ist erblich bedingt. Infektionskrankheiten während der Schwangerschaft (Röteln!), Stoffwechsel- und Hormonstörungen, Strahlungsschäden durch Röntgenuntersuchung während der Schwangerschaft, nicht rechtzeitig erkannte Rhesusunverträglichkeit (die medizinisch beherrschbar ist, wenn man die Gefahr erkennt), Gehirnhaut- und vor allem Gehirnentzündungen sind sehr viel häufiger die Ursache. Und: Die Zahl der Behinderten nimmt eher zu als ab.

Aber nur ein Teil von ihnen ist in Österreich statistisch erfaßt. So man-

cher landet mit 25 Jahren im Altersheim und verdämmert dort den Rest seines Lebens, ohne in irgendeiner Statistik als geistig Behinderter aufzuscheinen. Niemand kennt Zahl und Aufenthaltsort der wegen geistiger Behinderung von der Schulpflicht befreiten Jugendlichen. Immerhin: Die Ermittlung hat begonnen.

Der Ausschluß aus der Sonderschule kann ein viel härteres Urteil darstellen als die Einweisung in die Sonderschule, fast so etwas wie ein geistiges Todesurteil. Daß das Wort „bildungsunfähig“ durch „schulunfähig“ ersetzt wurde, ist schon ein Fortschritt, weil damit die Einsicht signalisiert wurde, daß es jene geistig Behinderten, bei denen „überhaupt nichts zu machen“ ist, nicht gibt.

Heute weiß man: Oft ist wenig zu machen, aber es ist immer etwas zu machen. Eines der wichtigsten Ziele der Lebenshilfe in Österreich ist es, die Schwelle in die Sonderschule niedriger zu machen. Mangel an Geld und Initiative in früheren Jahren führte übrigens dazu, daß wir etwas noch immer haben, was man in fortgeschrittenen Ländern wie Holland oder Skandinavien neuerdings wieder für richtig hält: Sonderklassen an allgemeinen Schulen statt isolierter Sonderschulen.

Einst haben die Eltern geistig behinderter Kinder resigniert, sich zurückgezogen, abgekapselt. Heute kämpfen sie für die Rechte ihrer Kinder. Sie sind die Schrittmacher der die geistig Behinderten betreffenden Sozialpolitik. Schon vor zehn Jahren hieß das Generalthema eines ihrer Weltkongresse „Von der Wohltätigkeit zum Rechtsanspruch“. 1971 nahmen die Vereinten Nationen eine „Deklaration über die Rechte geistig behinderter Menschen“ einstimmig an.

Doch in Österreich fehlen 3200 Förderungsplätze im vorschulischen Bereich (zwei Drittel), 1500 Sonderschulplätze (ein Viertel), 17.000 Arbeitsplätze für geistig Behinderte (ein Drittel) und 20.000 Wohnmöglichkeiten (90 Prozent).

Nur drei Bundesländer (Wien, Steiermark, Vorarlberg) verzichten darauf, von den ohnehin genügend belasteten Eltern oft sehr erhebliche Beträge für die Förderung in öffentlichen Einrichtungen zu fordern.

Auch der volle Einschluß der geistig behinderten Menschen in die Sozialversicherungsgesetze (ASVG) wäre selbstverständlich, ist aber nicht verwirklicht - viele geistig Behinderte hängen sozialversicherungsmäßig „in der Luft“.

Das österreichische Entmündi-gungsrecht läßt sich zwar genau über die Beschränkung der Rechte und über die Bewahrung des allfälligen Vermögens entmündigter Personen aus, aber Eltern geistig behinderter Kinder mit der Sorge allein, wer sich nach ihrem Tod um das Kind kümmern wird. In Holland und Schweden gibt es die „Pflegschaft ohne Entmündigung“ - die Eltern geistig behinderter Österreicher hoffen, daß das Justizministerium seine Überlegungen zu diesem Thema beschleunigt.

Die 125 Menschen in der Rueppgasse wissen nichts von diesen Dingen, aber sie leben und lieben das Leben. Sie sind sozial kommunikativ, und das Gefühl, gebrauchtau werden und etwas nützliches zu leisten, ist für sie von größter Wichtigkeit.

Manche sticken und basteln. Die nicht so glücklich sind, das zu können, drücken Plastikverschlüsse für Flaschen zu, die kartonweise offen angeliefert werden. Manchen geht die Arbeit flink von der Hand. Manche tun sich, nicht nur geistig, sondern auch in ihrer Fingerfertigkeit schwer behindert, auch dabei schwer.

Aber auch diese haben ein Bewußtsein, haben soziale Kommunikation, machen Fortschritte (und erleiden Rückschläge), und haben das Bedürfnis, akzeptiert und geliebt zu werden. Sie sind Menschen mit allen Menschenrechten, und sie haben liebenswerte Eigenschaften.

Mag sein, daß eine Gesellschaft nicht mehr wert ist, als sie ihr wert sind. Und daß sie in dieser Gesellschaft sogar eine Funktion haben, die weit über das Zudrücken von Flaschenverschlüssen hinausgeht. Sie zwingen die „Gesunden“, sich zu fragen, wie weit es mit ihrer Menschlichkeit her ist. Und das mag allein schon einen guten Teil der Ablehnung erklären, die sie erfahren.

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