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Menschenopfer im Namen der Liebe ?"

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Die Passion als gottgewolltes Leiden, als stellvertretende Sühne, scheint jüdischem Denken nur schwer begreiflich, bibelwidrig. Für sie kann der Tod nicht das letzte Wort Gottes sein.

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Die Passion als gottgewolltes Leiden, als stellvertretende Sühne, scheint jüdischem Denken nur schwer begreiflich, bibelwidrig. Für sie kann der Tod nicht das letzte Wort Gottes sein.

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Den klassischen Ausdruck der christlichen Heilslehre finden wir im vierten Evangelium, das dem Leiden und dem Tode Jesu universalerlösende Heilskraft zuschreibt: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß Er seinen eingeborenen Sohn dahingegeben hat, damit jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe" (Joh 3,16).

Es ist ein Satz von bestechender Schönheit — sowohl moralischethisch als auch theologisch —, der eine Antwort auf die tiefste Heilsnot der meisten Menschen gibt oder zu geben scheint. Er ist jüdisch in all seinen Ansätzen, unjüdisch jedoch in seinem resolutem Weiterdenken bis zur äußersten Konsequenz jenes urbiblischen Grundgedankens der Hebräischen Schrift, daß die Gnadenliebe Gottes keine Schranken kennt. Anders gesagt: Für die meisten jüdischen Ohren widerspricht er einer dreitausendj ährigen Gotteserfahrung; ehrlich gesagt: er klingt für viele von uns allzu schön, um wahr zu sein.

Um die Liebe Gottes geht es beiden, Juden wie Christen. Juden können jedoch eine solche Liebe mit einem Menschenopfer nicht in Einklang bringen; Christen hingegen sehen in demselben Opfertod Jesu den höchsten Liebeserweis Gottes. Ein und dieselbe Liebe ist es, jedoch zwei verschiedene Liebesverständnisse.

Für das Judentum gilt seit der Glaubensprobe Abrahams, die ihn bis an den Rand des Sohnesmordes brachte, eher eine andere Bibelwahrheit, die man johan-neisch folgendermaßen formulieren könnte: „So sehr hat Abraham Gott geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn hingeben wollte — auf daß alle, die im Glauben nachfolgen, wissen und bekennen mögen, daß die Liebe Gottes kein Menschenopfer verlangt."

Daß Gott eines Menschenopfers bedarf, um seine eigene Schöpfung mit sich selbst zu versöhnen, daß Er, der Weltenherr, ohne Blutopfer keinen Menschen zu rechtfertigen vermag, ist für Juden ebenso unbegreiflich wie bibelwidrig.

Ist dieser Gott, der unschuldiges Blut fordert und vergießen läßt, noch derselbe Gott Abrahams, Isaaks, der das Töten nachdrücklich verbietet, der die Nächstenliebe der Gottesliebe gleichstellt und der uns in seiner Bibel so eindringlich die Heiligkeit alles Menschenlebens einhämmert?

Seit Auschwitz sind wir alle demütiger und nachdenklicher geworden. Denn in jenem Massen-golgota sind unsere Vorstellungen vom „lieben Gott", vom „allmächtigen Gott", vom „gerechten Richtergott" ins Wanken geraten.

An welchen Gott können wir also nach Auschwitz noch glauben? Sicherlich nicht an einen triumphalen Gott, der im Himmel thront und dem wir als Knechte blindlings unterworfen sind. Im Talmud lesen wir: „Mose sprach: .Der große, mächtige und furchtbare Gott'(Dtn 10,17).

Im Philipperbrief heißt es von Jesus: „Er erachtete die Gottes-ebenbildlichkeit nicht als Beutestück, sondern er entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und ward den Menschen gleich.... Er erniedrigte sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tode... Deshalb hat Gott ihn erhöht" (2,6 ff).

Dieses christliche Dogma der Selbstentäußerung Gottes wurde im dritten Jahrhundert zum theologischen Rubikon, den kein frommer Jude zu überqueren bereit war, da es dem Herrschergott und dem Vatergott Israels so diametral zu widersprechen schien. Und dennoch ist diese Gottesvorstellung im Grunde nur eine Weiterführung oder Verdichtung der hebräischen Heilserfahrung, welche die Zuwendung Gottes in Liebe und All-Barmherzigkeit auf seine Menschheit hin als die Grunddynamik aller Weltgeschichte versteht.

Wäre es nun nicht denkbar, diese unerschöpfliche Gnadenliebe anstatt mit dem traditionellen Herrscherbild des Königtums Gottes mit dem eines paradoxalen Gottes zu verbinden, der groß genug ist, um sich klein zu machen, frei genug, um sich zu binden, allmächtig auch in seiner sich selbst auferlegten Ohnmacht - ein Gott der „Sympathie" im Doppelsinn dieses Wortes, nämlich: ein Gott, der aus seinen unerforschlichen Gründen mit-zu-leiden und mit-zu-lieben bereit ist.

Drei Ansätze im jüdischen Nachsinnen über Gott weisen den Weg in diese Richtung:

1. In der kabbalistischen Lehre vom Zimzum zieht sich Gott, der „Alles in Allem" ist, gleichsam in sich selbst zurück, um dadurch einen Freiraum zu schaffen, in dem sich das Weltall durch die Selbstbescheidung Gottes aus Emanationen stufenweise entfaltet. Nur dieser „Rückzug" Gottes, der einem Verzicht auf seine Würde gleichkommt, ermöglicht also den Prozeß der Schöpfung, in dem sich Gott ein „Gegenüber" gab — die Menschheit.

2. Ahnlich ist die hassidische Lehre der Hitbatlut, vom Selbstverzicht Gottes oder von der „Entselbstung Gottes", wie Martin Buber übersetzen wollte — ein Gott, der uns in selbstloser Weise eine imitatio hominis vorleben will, um uns zur imitatio Dei an-zueifern. „Wie Er Nackte kleidete — wie geschrieben steht: ,Er, Gott, machte Adam und seinem Weibe Röcke aus Fell und kleidete sie' (Gen 3,21) -, so sei auch Du: Kleide die Nackten! Er besuchte die Kranken, wie geschrieben steht: ,Er ließ sich von ihm (nämlich Abraham, als dieser drei Tage nach der Beschneidung Schmerzen hatte) an den Steineichen Mamres schauen' (Gen 18,1) — so sei auch Du: Besuche die Kranken! Er tröstete die Trauernden, wie geschrieben steht: ,Es geschah nach Abrahams Tod, da segnete Gott Isaak, seinen Sohn' (Gen 25,11) - so sei auch Du: Tröste die Trauernden!

3. Schließlich seien die zahlreichen Midraschim von der Anwe-tanut, der Herablassung Gottes erwähnt. Von ihr heißt es nach Je-saja 63,9 in der Lesart der Pharisäer: „In all ihrem Leid geschah Ihm Leid." Laut Psalm 91,15 sagt Gott nach derselben Lesart: „Mit Israel bin Ich im Leid"; und nach Psalm 22,9 erlaubt Er dem Menschen, seine Schuld auf Ihn abzuwälzen, „denn Gott wird sie tragen." Ja, nach einer Lehrmeinung der Rab-binen beginnt diese Selbst-Herablassung Gottes schon im ersten Kapitel Genesis: „Und Gott schuf den Menschen in Seinem Ebenbild." Welch größeren Selbstverzicht Gottes kann es geben, so fragen die Mystiker der Kabbala, als einem Klumpen staubiger Erde sein göttliches Ebenbild zu verleihen?

Wenn Gottes mannigfaltige Selbsterniedrigung nur Liebeserweise am Menschen bewirkt, mögen dann nicht auch die Leiden ein Beweis der Liebe Gottes sein?

Das sind keine säuberlichen Hypothesen, die sich Salontheologen in ihren Schreibstuben ausgedacht haben, sondern die letztmöglichen Ergebnisse eines verzweifelten Ringens mit dem ewigen Rätsel der Theodizee, der Rechtfertigung des von Gott zugelassenen Übels. So geschah es nach der Tempelzerstörung, nach der Vertreibung aus Spanien (1492) und nach Auschwitz. Vielleicht geschah es ebenso nach dem Untergang zu Golgota.

Katastrophentheologie — so mögen viele sagen. Aber ist nicht alle profunde, inbrünstige Gottessuche nichts anderes als Katastrophentheologie, die vom Himmel eine Antwort herabringen und herunter beten will?

Der Autor ist Bibelwissenschaftler an den Universitäten Frankfurt, Göttingen und Tel Aviv.

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