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Menschenrechte: Sinn für die Würde

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Achtung vor der Würde des Menschen - das kann und das muß heute von jedem der 149 Staaten verlangt werden, die sich Vereinte Nationen nennen.

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Achtung vor der Würde des Menschen - das kann und das muß heute von jedem der 149 Staaten verlangt werden, die sich Vereinte Nationen nennen.

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Es gibt Rechte, die jeder Mensch kraft seines Menschseins besitzt, ob der Staat, in dem er leben muß, sie ausdrücklich anerkennt oder nicht. Am 10. Dezember 1978 werden es 30 Jahre sein, daß die Generalversammlung der Vereinten Nationen die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ feierlich verkündet hat: als generellen Standard, auf den seither „alle Völker und alle Nationen“ verpflichtet sind.

Daß die Wirklichkeit anders aussieht, ist bekannt. Zwei von drei Bewohnern der Erde leben in politischer Unterdrückung verschiedensten Grades. 13 Millionen Flüchtlinge torkeln durch die Welt. Österreich ist eines der nur 44 von über 150 Ländern der Erde, in denen politische Freiheit, wie wir sie verstehen, herrscht.

„Wie wir sie verstehen“: Das ist nun einmal nicht dasselbe wie das, was Afrikaner oder Asiaten darunter in erster Linie meinen. Man muß den Gerechtigkeitssinn aufbringen, dies anzuerkennen und in Grenzen gelten zu lassen. Für die Bewohner des westlichen Kulturkreises stehen die individuellen Freiheitsrechte im Vordergrund: das Recht auf persönliche Freiheit, Sicherheit, Unschuld vor Schuldbeweis, Schul-und Berufswahl, Gewissens-, Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit.

Für die Bewohner der Entwicklungsländer spielen das Recht auf Leben und Überleben, auf ein wirtschaftliches Existenzminimum und Erhaltung der kulturellen Identität eine größere Rolle. In den kommunistischen Ländern wieder werden die kollektiven „Sozialrechte“ hervorgekehrt: Recht auf Arbeit, Wohnung, Gleichheit usw.

Entscheidend ist, daß man solche Akzentsetzungen nicht als einander ausschließend, sondern einander ergänzend ansieht Man kann nicht sagen: Individualrechte sollen nur in der kapitalistischen Welt gelten! Man kann ja selbstverständlich auch nicht sagen: Das Recht auf Leben soll nur in Asien oder das Recht auf Arbeit nur in der Sowjetunion gelten!

Verständlich ist es, wenn das Recht auf Nicht-Verhungern-Müssen in Bangladesch höher bewertet wird als das Recht auf Muße, das (richtigerweise) auch im UN-Katalog steht. Verständlich, wenn das Recht auf kulturelle Identität in ehemaligen Kolonialstaaten oder bei völkischen Minderheiten stärker betont wird als das Asylrecht.

Aber es war unentschuldbar, daß sich auch westliche Staaten vor einem Jahr in der UN-Generalversammlung von kommunistischen und Entwicklungsländern eine Resolution aufzwingen ließen, die einen Vorrang der „sozialen“ vor den „individuellen“ Menschenrechten postulierte. Denn das Menschsein ist unteilbar.

Gewiß: Man wird mit den Völkern Schwarzafrikas, die in wenigen Jahrzehnten eine Entwicklung durchschreiten sollen, zu der die Weißen Jahrtausende gebraucht haben, Geduld üben müssen. Vor allem wird man ihnen zugestehen müssen, daß sie ähnliche Irrtümer begehen wie wir, haben doch unsere Vorfahren im Namen Jesu Christi Kreuzzugskriege geführt und Ketzer verbrannt. Und Auschwitz war in unserer Generation!

Aber man darf wohl hinzufügen: Vieles von dem, was an Grausamem etwa im Mittelalter oder noch in den Religionskriegen der Neuzeit passierte, stand damals noch nicht im Widerspruch zum allgemeinen Bewußtsein der .Menschen. Heute gilt diese Ausrede nicht mehr. Gegen die UN-Menschenrechtsdeklaration hat am 10. Dezember 1948 kein Staat gestimmt. (Allerdings enthielten sich die kommunistischen Länder sowie Südafrika und Saudi-Arabien damals der Stimme, was auch nicht vergessen sein soll.)

Und kein später zur UNO gestoßenes Land hat sich je offen von diesen Menschenrechten losgesagt. Durch ihre Handlungen freilich haben es Tyrannenregierungen in vier der fünf Erdteile oft und erbärmlich genug getan. Die britische Regierung hat vor einem Jahr eine geheime Liste der ärgsten Menschenrechtsverletzer zusammengestellt, die damals von Idi Amins Uganda, General Pinochets Chile, Khieu Sampans Kambodscha und Kaiser Bokassas Zentralafrika angeführt wurde. An der Spitze der „guten“ Staaten fand sich in diesem britischen Dokument neben weißen Ländern auch das schwarzafrikanische Botswana - ähnlich wie Senghors Senegal - ein Beweis dafür, daß man nicht weiß sein muß, um einen Sinn für die Würde des Menschen zu besitzen.

Zu den Menschenrechten wird man nicht einfach ein parlamentarisches System à la Westminster zählen können, wie es missionarische Politiker in den USA immer wieder tun und damit ungewollt unendlich viel Unheil anrichten. Aber die Achtung vor der Würde des Menschen, wie sie Sophokles schon vor über 2400 Jahren in seiner „Antigone“ vertrat und Christus in der Bergpredigt und ebenso die jüdische Mischna (die mündliche Tora), wo es um 200 n. Chr. hieß: „Wer immer ein Menschenleben vernichtet, dem wird es angerechnet, als hätte er die ganze Welt vernichtet, und wer immer ein Menschenleben erhält, dem wird es angerechnet, als hätte er die ganze Welt erhalten“ - das kann und das muß heute von jedem der 149 Staaten verlangt werden, die sich Vereinte Nationen nennen. Auch von Österreich, wo abgetriebene und mißhandelte Kinder, Gastarbeiter, Arbeitslose, geistig und körperlich Behinderte, Psychiatrie-Patienten und Strafentlassene oft genug Zeugen dafür sind, wie rasch man selber zum Heuchler werden kann.

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