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Menschenrechte mit und ohne tiefere Bedeutung

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Nicht so provinziell wie erwartet, nicht so schlecht informiert wie angenommen, nicht so arrogant wie befürchtet - so empfanden die europäischen Staatsmänner Präsident Carter bei den Londoner Gipfelgesprächen. Von diesen positiven Überraschungen profitierten Carters Zensuren in der US-Presse. Die europäischen Staatsmänner kamen zwar mit leeren Händen nach Hause, aber im stillen sagten sie sich wohl, Carter sei gar nicht so arg, wie er oft geschildert werde.

Daß Carter die komplizierten Verhältnisse in Berlin verballhornte und sie auf West- sowohl wie auf Ostdeutschland übertrug, wurde als unglückliches Detail in den hintersten Teil der „New York Times“ verbannt. Die meisten Blätter meldeten darüber überhaupt nichts, weil in den USA sowieso fast niemand die Berliner Verhältnisse kennt.

Aber unabsehbares Unheil wurde dadurch vermieden, daß der befürchtete persönliche Konflikt zwischen Carter und dem deutschen Bundeskanzler ausblieb. Carter ließ Schmidt sozusagen siegen und gewann dadurch zwar noch keinen überzeugten Bundesgenossen, aber ein Wohlwollen, das für die Zukunft der deutsch-amerikanischen Beziehungen alles offen läßt.

Die Atmosphäre war bereits vor dem Gipfel entspannt, als Washington Bonn zu verstehen gegeben hatte, daß es gegen das bundesdeutsche Atomgeschäft mit Brasilien nichts mehr unternehmen werde. Die Katze war ohnedies schon aus dem Sack, weder Bonn noch Brasilia hatten sich ein- schüchtem lassen, es war daher das vernünftigste, gute Miene zu machen. Für die Zukunft wollten dann die westlichen Führungsmächte einen atomaren Modus vivendi ohne Plutonium und „schnelle Brüter“ finden. Wer aber weiß, wie kompliziert es ist, im eigenen Land eine annehmbare Lösung dieses brennenden Energieproblems zu finden, der mag wohl bezweifeln, daß hier international divergirende Interessen koordiniert werden könnten.

Mit Skepsis wurde von den Europäern Carters Interpretation der neuen Menschenrechtspolitik aufgenommen. Nicht, daß man einer Huldigung für die Freiheitsrechte abhold wäre. Aber in Europa empfindet man die politische Ohnmacht stärker als in den USA, und in Europa hat man gelernt, mit Realitäten zu leben.

Im übrigen ist es in den USA selbst repht still um die Menschenrechte geworden, da die Normalisierung der Beziehungen mit dem recht wenig menschenfreundlichen Castro-Regime in Kuba Priorität haben dürfte... Interessanterweise ist es der Kongreß, dem man im allgemeinen Zynismus und Opportunismus vorwirft, der zur Zeit die Normalisierung mit Havanna und Hanoi blockiert. Die Betonung der Menschenrechte ist daher offenbar ohne tiefere Bedeutung.

London war als Wirtschaftsgipfel angekündigt worden und so galt auch alle Aufmerksamkeit der schleichenden Wirtschaftskrise. Da noch verschiedene Staaten der freien Welt unter ungewöhnlich hoher Arbeitslosigkeit leiden, durfte erwartet werden, daß der Ruf Washingtons nach zusätzlichen Konjunkturspritzen laut und für jedermann vernehmlich erklingen werde. Mit diesem Rezept war Carter bereits in den ersten Wochen seiner Regierung an Europa herangetreten und war damit in Bonn auf Widerspruch gestoßen. Dann aber hatte Carter sein eigenes Stimulierungsprogramm auf die geplanten Steuerrabatte eingestellt und man kann nur schwer in der Fremde predigen, was man zu Hause nicht praktiziert. So kam denn auch auf dem Londoner Gipfel eine merkwürdige Formel heraus, die in Zukunft für die theoretischen Erkenntnisse der Volkswirtschaft wichtiger sein wird als für das praktische Leben. Man sagte zum erstenmal der alten Formel ab, daß Arbeitslosigkeit durch Inflation bekämpft werden könne und erklärte vielmehr, daß Inflation zu den Ursachen der Arbeitslosigkeit zähle. Man hört hier deutlich die deutsche Formulierung heraus und erkennt den Sieg des deutschen Wirtschaftskonzepts. Das alles ist um so erstaunlicher, als es eigentlich von politischen Exponenten vorgetragen wurde, die in der Vergangenheit ihr Heil in der „sozialen Ausgabenwirtschaft“ und ihre letzte Zuflucht in der Banknotenpresse gesucht und gefunden hatten.

So richtig und löblich also der Gnadenstoß für die bankrotte „Ausgabenpolitik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ auch ist - das Kommunique von London drückt sich um einen anderen Vorschlag. Zu sagen, Inflation zähle zu den Ursachen der Arbeitslosigkeit, ist ein Gemeinplatz, der noch keine neuen Arbeitsplätze schafft. Offen zu sagen, man müsse sparen, sich einschränken und nationale Opfer bringen - das können sich Politiker, die wiedergewählt werden wollen, nicht leisten. So bleibt es wohl jedem Land überlassen, seinen eigenen mehr oder weniger inflationären Weg zu gehen; die einen überlassen die Gesundung der eigenen Vitalität und Selbstdisziplin (wie die Deutsche Bundesre publik), die anderen werden soviel Inflation verschreiben, als ihnen politisch erträglich zu sein scheint. Auch in dieser Hinsicht hat Carter sein Konzept zurückgestellt.

Diese Zurückhaltung, dieses Sich- selbst-aus-der-Frontlinie-Nehmen war jedoch für das erste Gipfeltreffen taktisch das Richtige. Zugleich zeigte Carter genug Präsenz, war das „Phänomen“ Carter auszuloten für die Partner genug Anreiz, um den Londoner Gipfel zu überschatten. Wenn es gelingt, Carters Hang zur Kosmetik, oder, wie einer seiner engsten Berater kürzlich in einem Memorandum niederlegte: „die Priorität der Symbolik über die Realität“ - auf internationaler Ebene zu unterdrücken, dann könnte die Persönlichkeit des Präsidenten im westlichen Lager stimulierend und zugleich einigend wirken. Was verbleibt, ist allerdings die immer wieder gestellte Frage: Welches ist nun Carters wirkliche und eigentliche Natur.

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