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Menschlich und wirtschaftlich

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Das,wirtschaftliche System der modernen Industriegesellschaft ist durch ein bisher unbekanntes Maß an Versorgung mit materiellen Gütern charakterisiert. Allerdings haben wir unseren Wohlstand mit zunehmender Entfremdung und Sinnentleerung erkauft

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Das,wirtschaftliche System der modernen Industriegesellschaft ist durch ein bisher unbekanntes Maß an Versorgung mit materiellen Gütern charakterisiert. Allerdings haben wir unseren Wohlstand mit zunehmender Entfremdung und Sinnentleerung erkauft

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Eine wachsende Anzahl von Mitbürgern fühlt sich von der Dominanz des Rationalen, des Technisch-Ökonomischen in ihrem subjektiven Menschsein unterdrückt und einer alle Bereiche des Zusammenlebens umfassenden Technostruktur hilf- und wehrlos ausgeliefert.

Nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, auch auf dem sozialpolitischen Gebiet ist die Götterdämmerung der „economies of scale" (der aufgeblähten Dienstleistungsbehörden, die weite Gebiete versorgen und daher angeblich effizienter arbeiten) mit aller Deutlichkeit angebrochen.

Unser allumfassendes, verbürokratisiertes Wohlfahrtssystem ist nicht nur unmenschlich und teuer. Es steht und fällt mit der konjunkturellen Entwicklung. Schon die „Minikrise" des Jahres 1975 hat die Grenzen seiner Finanzierbarkeit angedeutet.

Die Fülle an Alarmsignalen bringt es mit sich, daß allenthalben Lösungsund Änderungsvorschläge unterbreitet werden. So gut wie allen Alternativsystemen ist allerdings gemeinsam, daß sie realitätsferne Sozialutopismen darstellen, die bestenfalls für eine engagierte Minderheit, wegen ihrer zweifelhaften ökonomischen Effizienz aber sicherlich nicht für die breite Masse der Bevölkerung gangbar sind.

Angesichts dieses Dilemmas bietet sich für weite Bereiche des Wirtschaftslebens ein Instrument als Lösungsmöglichkeit an, das wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit einer Organisationsstruktur verbindet, in der dem Individuum der zur Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung erforderliche Freiraum gewährt bleibt: die Genossenschaft, eine wirtschaftliche Unternehmungsform, in der ökonomische Effizienz mit einem Maximum an individueller Freiheit und Mitbestimmung kombiniert werden kann.

Entstanden ist die Idee der genossenschaftlichen Selbsthilfe um die Mitte des vorigen Jahrhunderts als Defensiveinrichtung gegen die Auswüchse des kapitalistischen Wirtschaftssystems.

Was diese Genossenschaften als realistische Alternative zur entpersönlichenden Technostruktur und zu kollektivistischen Wohlfahrtssystemen macht, ist allerdings nicht so sehr deren ökonomischer Effekt, als das ihnen wesensgemäß innewohnende Prinzip der Subsidiarität. Es betont die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der kleinen sozialen und wirtschaftlichen Gebilde vor den größeren und übergeordneten.

Alles, was die kleine Gemeinschaft aus eigener Kraft und Initiative leisten kann, soll ihr nicht entzogen werden. Das übergeordnete (wirtschaftliche und soziale) Gebilde ist vielmehr dazu verpflichtet, die primäre Gemeinschaft zur Ausübung von Aktivitäten zu ermutigen und sie dabei zu unterstützen.

Auf den wirtschaftlichen Bereich angewandt bedeutet dies, daß relativ kleine, überschaubare Einrichtungen (Primärgenossenschaften) alle jene Aufgaben erfüllen sollen, die sie sinnvollerweise und zu vertretbaren Kosten zu erfüllen vermögen. Das heißt aber nicht, daß dem sozialromantischen Prinzip „small is beautiful" auf jeden Fall und um jeden Preis zu huldigen wäre.

Ubergeordnete Gebilde in Gestalt von Landes- und Bundeszentralen übernehmen im Wege des genossenschaftlichen Verbundes als Ergän-zungs- und Hilfsbetriebe der Primärgenossenschaften jene Aufgaben, die über die Kräfte der einzelnen Primärgenossenschaft hinausgehen, und garantieren damit eine optimale Leistungsbereitschaft auch im rein ökonomischen Sinne.

Der hier beschriebene Idealtypus des Genossenschaftssystems zeichnet sich demnach durch folgende Charakteristika aus:

Uberschaubarkeit: Die Primärgenossenschaften beschränken ihre Tätigkeit auf einen überschaubaren Bereich. Dadurch wird die Abstimmung der Geschäftspolitik auf die lokalen Bedürfnisse und auf die Mitbestimmung der Mitgliedschaft gewährleistet.

Freiwilligkeit: Die Mitgliedschaft bei den Genossenschaften ist jedermann freigestellt. Die Genossenschaften kennen auch keinen Kontrahierungszwang.

Demokratie: Im Gegensatz zu anderen wirtschaftlichen Unternehmungsformen gilt bei den Genossenschaften für jedes Mitglied, unabhängig von Einkommen, Vermögen oder Stand, das Kopfstimmrecht. Jedes Mitglied hat in der Generalversammlung, dem willensbildenden Organ der Genossenschaft, das aktive und passive Wahlrecht.

Autonomie: Die Genossenschaft wird von den Mitgliedern im Rahmen der bestehenden Gesetze autonom und in Selbstverantwortung verwaltet.

Kostendeckungsprinzip: Die Genossenschaften streben nicht die Maximie-rung der Gewinne an, sondern arbeiten nach dem Grundsatz der Kostendeckung. Oberstes Ziel ist die Förderung der Mitglieder.

Die Genossenschaft ist demnach sowohl Personengemeinschaft als auch wirtschaftliches Unternehmen. Aus dieser Bipolarität resultiert ein Spannungsverhältnis. Denn als Personengemeinschaft kann die Genossenschaft nicht klein genug sein, da naturgemäß die sozialen Interaktionen umso intensiver sind, je kleiner die Gemeinschaft ist. Als wirtschaftliches Unternehmen unterliegt die Genossenschaft andererseits aber auch den betriebswirtschaftlichen Gesetzen, die eine bestimmte Mindestbetriebsgröße erfordern, um den Mitgliederförderungsauftrag wirksam erfüllen zu können.

Wie die im Rahmen des Europäischen Forums in Alpbach jüngst durchgeführten Genossenschaftsgespräche gezeigt haben, gehen in Österreich tätige Genossenschaftsgruppen (Raiffeisen, Volksbanken, Konsum und Wohnbaugenossenschaften) diesbezüglich sehr unterschiedliche Wege. Während die Konsumgenossenschaften unter weitestgehender Preisgabe derGrundsätze der Uberschaubarkeit, der Autonomie und der direkten Mitglieder-Demokratie den Weg der Konzentration verfolgen und den „Konsum Österreich" mit mehr als 600.000 Mitgliedern geschaffen haben, beharrt die Raiffeisen-Gruppe auf dem Grundsatz der Dezentralisation.

Aber auch im Raiffeisen-Sektor ist der genossenschaftliche Himmel nicht ungetrübt. Vor allem bei den Kreditgenossenschaften, also den Raiffeisenkas-sen, ist eine deutliche Lockerung der emotionellen Mitgliederbindung festzustellen - eine Entwicklung, die sich in Zukunft noch verschärfen wird, da das neue Kreditwesengesetz größere betriebliche Einheiten bedingt und damit Fusionen erzwingt.

Die Rechtsform der Genossenschaft gleicht somit einer Vase, in der die verschiedensten Blüten und Blumen enthalten sein können: Blüten der zentralverwalteten Wirtschaft, wie das besonders ausgeprägt bei den ebenfalls als „Genossenschaften" bezeichneten Zwangseinrichtungen der Ostblockstaaten der Fall ist.

Es können aber auch die Blumen einer ideologischen Grundeinstellung sein, die in einer dezentralen Organisationsstruktur dem Individuum optimale Entfaltung und direkte Mitbestimmung und damit soziales Wohlbefinden zu garantieren trachtet.

Die Genossenschaften sind eine Chance für die Bewältigung unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zukunftsprobleme. Wie sie funktionieren, welche Geschäftspolitik sie letztlich verfolgen werden, welche Ideologie zum Durchbruch gelangt, inwieweit die gebotene Chance genützt wird, hängt voll und ganz von der Bereitschaft zur Mitarbeit und vom Engagement der Genossenschaftsmitglieder, und aller, die bereit sind, in den Genossenschaften mitzuarbeiten, ab.

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