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Menschsein nur aus Gott

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Das*Anliegen von Karl Marx ist es, den vollkommen freien, von keinerlei irdischen und überirdischen Mächten abhängigen Menschen zu schaffen, der so total auf sich selbst gegründet ist, daß das Problem „Gott" für ihn gar nicht existiert. Er leugnet Gott nicht, er ignoriert ihn.

Wenn ihn in der Gegenwart das Gottesproblem noch beschäftigt, so äußert sich darin der Zustand seiner Entfremdung von sich selbst. Gäbe es Gott, so würde der Mensch zu seinem Sklaven, er würde durch Gottes Allmacht und Überlegenheit erdrückt. Marx will aber den freien Menschen, also darf es Gott nicht geben.

Der „postulatorische Atheismus", der die Nichtexistenz Gottes einfach postuliert, findet hier seine vielleicht radikalste Ausprägung.

Um den Menschen als total auf sich selbst gegründet dartun zu können, versteht Marx das Wesen des Menschen als einen dialektischen Prozeß der Selbsterzeugung durch die Arbeit. Indem der Mensch sein Lebensmittel produziert, erzeugt er indirekt sein eigenes Leben.

Dieser Prozeß hat für Marx — was zum Verständnis seiner Theorie der Entfremdung des Menschen von wesentlicher Bedeutung ist —, dialektischen Charakter, er vollzieht sich im Rhythmus von Entäußerung und Wiederaneignung. Der arbeitende Mensch entäußert seine Wesenskräfte im Produkt seiner Hände, er legt, wie Marx sich ausdrückt, „sein Leben" in den Gegenstand. Indem er dann das Produkt seiner Arbeit als „Lebensmittel" zur Befriedigung seines Bedürfnisses gebraucht, verwirklicht sich die Wiederaneignung der entäußerten Wesenskräfte.

In der gegenwärtigen, auf dem Privateigentum basierenden Gesellschaftsordnung wird jedoch das vom Arbeiter erzeugte Produkt, und damit sein eigenes vergegenständlichtes Wesen, privater Besitz eines anderen und verwandelt sich des weiteren in Gestalt des Kapitals in eine ihm feindliche und ihn bedrückende Macht. So kommt es zum Phänomen der Entfremdung des Menschen. Sie äußert sich in den verschiedensten Formen und in allen Lebensbereichen.

Auf allen Gebieten werden die vom Menschen geschaffenen Werke zu Mächten, die sich mehr und mehr der Kontrolle ihres Schöpfers entziehen und ihn bedrohen. Erst die proletarische Revolution, die das Privateigentum an den Produktionsmitteln beseitigt, legt die Axt an die Wurzel aller Entfremdung und schafft die Voraussetzung für die volle Selbstverwirklichung des Menschen. So jedenfalls Karl Marx.

Dem Marxschen Menschenbild gilt es, das christliche Menschenbild gegenüberzustellen. Seine Grundlage ist der Glaube an das Geschaffensein durch Gott. „Homo creatus est" — der Mensch ist erschaffen, so hebt die erste Betrachtung der Exerzitien des hl. Ignatius an.

Ich kann diese Worte nicht ohne tiefe innere Bewegung wiederholen. Ich bin von Gott erschaffen. Von ihm habe ich mein ganzes Sein. Ihm verdanke ich nicht nur dies und das, sondern mich selbst; nicht nur alles, was ich habe, sondern alles, was ich bin.

Dabei steht sein Schöpfungsakt nicht nur am Anfang meiner Existenz in der Zeit, vielmehr gehe ich, wenn ich ihm mein ganzes Sein verdanke, jeden Augenblick aus seiner Hand hervor. Es ist nicht so wie im Verhältnis des Kindes zu den Eltern: das Kind erhält von seinen Eltern wohl das Leben, es bedarf auch für lange Zeit ihrer Hilfe, aber es ist, es existiert als ein selbständiges Wesen.

Wäre dies das Verhältnis des Menschen zu Gott, so hätte der postulatorische Atheismus recht. Wären Gott und Mensch zwei getrennte, voneinander unabhängige Wesen, so würde der Mensch durch Gottes Allmacht erdrückt und versklavt.

Aber zum Glück verhält es sich nicht so. Jeden Augenblick gehe ich aus Gott hervor, ich existiere nur in diesem ständigen Hervorgehen. Nur in diesem „Sein aus Gott" kann der Mensch er selbst

Dazu kommt ein weiteres. Des Menschen „Sein aus Gott" ist zugleich notwendig ein „Sein zu Gott" oder ein „Sein für Gott". Der Mensch kann sich selbst nicht bejahen, ohne Gott zu bejahen, er kann sich selbst nicht wollen, ohne Gott zu wollen, er kann sich selbst nicht lieben, ohne Gott zu lieben.

So wird die Beziehung „aus Gott" notwendig zu einer Beziehung „zu Gott" und „für Gott". Dieses Zusammenfallen von „Aus" und „Zu" macht das Leben des Menschen in gewissem Sinne ähnlich der Bewegung längs einer Kreisbahn: auch hier sehen wir ein Zusammenfallen des „Aus" und „Zu", jeder Schritt vom Ausgangspunkt-weg ist zugleich ein Schritt zum Ausgangspunkt hin.

Diese notwendige Hinordnung des Menschen auf Gott kann auch der Gottesleugner nicht aufheben. Auf der ontologischen, seinsmäßigen Ebene des Daseins bleibt er, ob er es will oder nicht, auf Gott hingeordnet, während er auf der psychologischen Ebene dagegen aufbegehrt.

So bleibt der Atheist innerlich zerrissen und im Widerspruch mit sich selbst. Wir kommen zu dem überraschenden Ergebnis: Nicht die Annahme und Bejahung meines Seins „aus" und „zu" Gott, sondern die Leugnung und Ausschaltung Gottes bedeutet demnach eine Selbstentfremdung des Menschen.

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