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Menschwerdung und Naturwissenschaft

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Der Anatom Blechschmidt hat bewiesen, daß der menschliche Embryo von Anfang an Mensch ist. Der Biologe Portmann sah im Menschen viel mehr als ein Produkt von „Zufall und Notwendigkeit".

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Der Anatom Blechschmidt hat bewiesen, daß der menschliche Embryo von Anfang an Mensch ist. Der Biologe Portmann sah im Menschen viel mehr als ein Produkt von „Zufall und Notwendigkeit".

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Vorerst erkennen wir den Nächsten an seiner Gestalt; schon von weitem sehen wir: Das, was da kommt, ist ein Mensch. Auch uns selbst erkennen wir am Nächsten: Ich bin wie der andere. Im Judentum lautet eine Formulierung des Liebesgebots: Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du. Der Existenzphilosoph Karl Jaspers sagt: Ich bin durch den arideren. Der Mensch vermag nur durch den Menschen Mensch zu sein: Er ist das Wesen der Liebe. Eine Gesellschaft mit zu wenig Liebe ist nicht lebensfähig. Eine Religion steht Gott umso näher, je verpflichtender ihr Liebesgebot ist.

Ich erkenne meinen Nächsten an seiner Gestalt, aber seine Gestalt verändert sich. Bei seiner Geburt hat er eine andere Gestalt, als wenn er ein Greis geworden ist. Aber: Meine Mutter bleibt meine Mutter; die Totalität ihrer Individualität bleibt erhalten. Ich erkenne meinen Nächsten nur vorerst an seiner Gestalt. Das Wesen des Menschen ist mehr als ein Sein in Raum und Zeit. Seine Individualität ist ein entscheidendes Kriterium seiner Wesenheit. Für die Wahrheit gibt es keine Flucht aus der Identität.

Anschaulich gesagt: Wenn ich nach meinem Tod vor Christus stehe und Er nennt mich beim Namen, so kann ich dem Gericht nicht entgehen, indem ich meine Identität leugne und etwa sage: Ich bin nicht Max, sondern Moritz. Und „Zeit" wird Gott für jeden einzelnen genügend haben, weil die Wirklichkeit der Welt sich jenseits von Raum und Zeit erfüllt.

Obwohl die Gestalt des Menschen sich ändert, bleibt er ein und derselbe. Auch die Änderung seiner geistigen und seelischen Dimensionen geschieht im Verlauf seines Lebens unter Erhaltung der^ Identität. Aber die Gestalt des Menschen ändert sich nicht nur zwischen seiner Geburt und seinem Tod, sondern auch zwischen seiner Empfängnis und seiner Geburt. Wenn wir einem Menschen sechs Monate vor seiner Geburt begegnen, so erkennen wir ihn nicht an seiner Gestalt, obwohl er ein Mensch ist. Wenn wir von seiner Geburt an in der Zeit rückwärts gehen, begleiten wir immer einen Menschen. Und zwar bis hin zu dem Geheimnis des Geschehens, wo er im Schoß seiner Mutter empfangen wird.

Daran ändert die Tatsache nichts, daß wir uns wegen der räumlichen Enge der bloß 1/10 Millimeter großen Zygote die geistige Gegenwart des Menschen nicht vorstellen können. Geist und Materie sind unvergleichbare Größen. Das äußert sich auch im Umgekehrten: So wie der Geist in der materiellen Enge des befruchteten Eies existiert, erfüllt er auch die unvorstellbaren Weiten des Weltalls. Der Geist befindet sich eben nicht in der Welt, sondern die Welt im Geist. Mit einer ausschließlich physikalisch-chemischen Denkweise ist dieses Mysterium nicht zu erfassen. Es ist die Pflicht jener, welchen die Gnade des Schauens der über Raum und Zeit stehenden Weltwirklichkeit gewährt wird, die Materialisten nicht zu verurteilen.

Allerdings, es gibt Menschen, die den Menschen auch dann schon an seiner Gestalt zu erkennen vermögen, wenn erst wenige Tage seit seiner Empfängnis verstrichen sind. So der Göttinger Anatom Erich Blechschmidt, der in jahrzehntelanger Forschungsarbeit zeigen konnte, daß die Entwicklung des menschlichen Embryos sich von Anfang an von allen tierischen Embryonen unterscheidet, daß der Mensch auch körperlich von Anfang an Mensch ist. Diese Arbeit von hoher wissenschaftlicher Präzision ist in Göttingen als humanembryologi-sche „Dokumentationssammlung Blechschmidt" jedermann zugänglich; sie steht unter dem Pa-tronat des Bundeslandes Niedersachsen.

Blechschmidt hat damit bewiesen, daß das sogenannte „biogenetische Grundgesetz" Ernst Haeckels eine Spekulation ist und keineswegs den Tatsachen entspricht. Trotzdem findet man es immer noch in vielen Biologiebüchern unserer Schulen. Mit dem als eine wissenschaftliche Tatsache dargestellten „biogenetischen Grundgesetz" wird behauptet, daß der Mensch im Mutterleib jene embryonalen Tierstadien durchlaufe, welche er im Verlauf einer hypothetischen Stammesgeschichte während einer Evolution der Biosphäre eingenommen habe. Nach dieser wissenschaftlich nicht haltbaren Abstammungslehre Haeckels wäre der Mensch also nicht von Anfang an Mensch.

Auch der große Basler Biologe Adolf Portmann weist immer wieder auf die Sonderstellung des Menschen hin, der für ihn der ganz andere im Reich der Schöpfung ist. In Portmanns Biologie fehlen die Spekulationen, es gibt ausschließlich die strenge Anwendung des von Goethe als die anschauende Urteilskraft bezeichneten Erkenntnispotentials des menschlichen Geistes.

Die werdende, seiende, vergehende und wiederkehrende Gestalt der Lebewesen is^ in der Portmannschen Biologie kein Produkt von „Zufall und Notwendigkeit", sondern ursprüngliche und letztgründliche Seinsweise alles Lebendigen. Das, was Portmann die Innerlichkeit der Lebensformen nennt, ist materiegestaltender Geist zur Darstellung seiner selbst. Portmann spricht von Organen des Wahrnehmens und von Organen des Wahrgenommenwerdens, welch letztere meistens Organe der Schönheit sind.

Die Krone des Gehörs, das Auge, ist beides zugleich: Organ des Sehens und Organ des Gesehenwerdens — des Schauens und des Blickens. Das Auge ist das eigentliche Organ der Innerlichkeit als Sein zur Liebe, der Einswerdung des Du und des Ich: Die gegenseitig schauenden und blickenden Augen der Liebenden sind reiner Text, der keiner anderen Sprache mehr bedarf als die Sprache der Welt jenseits von Raum und Zeit.

Das Anliegen, das im Herzen des Biologen Adolf Portmann wohnte, ist der Mensch. Das Wesen, welches, was den Körper anbelangt, bis in die tiefsten Wurzeln mit dem Tierreich verbunden ist. Durch das Besondere seiner Innerlichkeit aber, durch seinen Geist, ist der Mensch jedem Maßstab des Tierreichs entrückt. Es ist eine der ganz besonderen Leistungen Portmanns, diese Distanz biologisch abgebildet zu haben. Die als „Portmann-Phänomen" bezeichnete, von der menschlichen Geistigkeit geprägte Entwicklung des körperlichen Menschen wird — wie bei vielen entscheidenden Taten in der Geistesgeschichte — erst in der Zukunft in gebührendem Maß anerkannt werden.

Um vertraute unmoderne Worte zu gebrauchen: Mit der anschauenden Urteilskraft des Mor-phologen zeigt Adolf Portmann,daß unter den vielen Geschöpfen der Mensch ein Ebenbild Gottes ist.

Wie werden wir erschrecken, wenn wir erkennen, was wir getan haben, als wir den im Mutterleib werdenden Menschen nur als ein Stücklein Materie betrachteten, in welchem sich ausschließlich die physikalisch-chemischen Prozesse abspielen, die in einer lebenden Zelle meßbar sind. Wenn wir sehen werden, daß wir bloß gewußt haben, wie wir tun, aber nicht, was wir tun.

Wer wird uns verzeihen? Nach einer Tat, wo die Täter gewußt haben, wie sie tun, i sprach Christus am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Einige Monde vorher, als Selbstgerechte eine Ehebrecherin steinigen wollten, sagte Er: „Wer unter euch ohne J5ünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie." — Da sie aber das hörten, gingen sie, einer nach dem anderen.

Ohne zu glauben, kann der Mensch nicht denken; auch der Ungläubige glaubt, daß er nicht glaubt. Heute, wo die Weisheit mit Bergen von Wissen verschüttet wird, ist es schwer geworden, so-kratisch weise zu sein: Man muß viel mehr wissen, um zu wissen, daß man nichts weiß.

Univ.-Prof. Dr. Max Thürkauf lehrt physikalische Chemie an der Universität Basel.

Weiterführende Literatur von Max Thürkauf: „Adams Apfel - Giftige Früchte vom Baum der Wissenschaft", Novalis Verlag, Schaffhausen 1982.

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