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Menuhin wäre bei uns versandelt

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Begabung, die nicht gepflegt wird, versiegt'leicht. Sie „versandelt“, wie man in Wien sagt. Begabte, die die Schule nicht allzu fordert, werden leicht uninteressierte Außenseiter.

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Begabung, die nicht gepflegt wird, versiegt'leicht. Sie „versandelt“, wie man in Wien sagt. Begabte, die die Schule nicht allzu fordert, werden leicht uninteressierte Außenseiter.

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„Was sind Hochbegabte?“ Nach internationaler Auffassung gilt ein Kind als hochbegabt, wenn es aufgrund herausragender Fähigkeiten hohe Leistungen vollbringt oder vollbringen könnte. Die Psychologen unterscheiden dabei zwischen verschiedenen Arten von Hochbegabung: • Allgemeine intellektuelle Begabung wie schnelle Auffassungsgabe, gute Lernfähigkeit und gutes Gedächtnis, Fähigkeit zu selbständigen geistigen Leistungen in den Sprachen, den Naturwissenschaften und dem logischen Denken, wobei sich die Begabung sehr häufig auf mehrere dieser Gebiete erstreckt;

• musikalische, bildnerische und darstellende Begabung; '

• psychomotorische Begabung;

• soziale Begabung (Einfühlungsvermögen, Fähigkeit, gut mit Menschen umzugehen, „Führerqualitäten“).

Damit sich eine Begabung zur Hochleistung entfalten kann, sind aber auch noch andere Faktoren von Bedeutung wie Kreativität (Phantasie, Einfallsfülle, Originalität, geistige Flexibilität), innere Motivation (Ehrgeiz, Fleiß, Ausdauer) und eine geeignete Umwelt (optimale Förderung und Anregung durch die Umgebung).

Eines der Probleme jeder Begabtenförderung ist das Erkennen von Begabung. Begabung ist nicht direkt meßbar, sie muß sich in einer Leistung äußern.

Mit Intelligenztests kann man zwar einen Teil der intellektuellen Fähigkeiten messen. Diese Tests sind jedoch nicht unumstritten, da ihr Ergebnis von zu vielen anderen Faktoren abhängt wie der Tagesverfassung des Getesteten oder seinem Vertrauensverhältnis zum Tester.

Außerdem lassen sich künstlerische Begabung, Originalität, Phantasie genausowenig messen wie die Anzeichen sozialer Hochbegabung. Alle Förderprogramme für Hochbegabte nehmen darauf Rücksicht und beziehen auch das Urteil von Eltern, Mitschülern und Lehrern genauso ein wie Kreativitätstests und ein ausführliches Gespräch mit dem Kind.

Warum sollen nun hochbegabte Kinder überhaupt gefördert werden?

„Wer begabt ist, setzt sich ohnehin durch, nur der Schwache braucht Hilfe und muß gefördert werden!“ Diese Meinung ist zwar weit verbreitet, dient aber meist als bequeme Ausrede dafür, für begabte Kinder nichts tun zu müssen. Außerdem haben internationale Untersuchungen ergeben, daß mehr als zwei Drittel aller Hochbegabten nicht entdeckt und nicht gefördert werden.

Für den Großteil dieser Kinder bedeutet das das Ende einer Chance, ihre Begabung zum Wohle der Allgemeinheit nutzen zu können.

Hochbegabte, die ihre Fähigkeiten nicht entwickeln können, sind gewöhnlich nicht sehr glückliche Menschen; darüber hinaus ist der Verlust eines Talents stets auch ein Verlust für die Gesellschaft.

Sehr häufig enden jedoch die nicht entdeckten und nicht geförderten Begabungen in unbefriedigender Durchschnittlichkeit oder sie werden zu leistungsver-weigernden „Aussteigern“.

Hochbegabt zu sein ist nämlich durchaus nicht immer nur ein großes Glück. Die Probleme der Hochbegabten kommen dabei teils aus ihnen selbst, teils von Seiten der Umwelt.

Da Kinder mit besonderer intellektueller Begabung ihrer Umwelt in der geistigen Entwicklung oft drei bis vier Jahre voraus sind, nicht aber in der körperlichen und emotionalen, werden sie häufig falsch eingeschätzt und falsch behandelt.

Reagieren sie, wie es ihrem Alter entspricht, als Kinder, nimmt man ihnen dies aufgrund ihrer „Gescheitheit“ eher übel als anderen und macht ihnen ihre geistige Frühreife zum Vorwurf.

Stets leiden diese sensiblen Kinder darunter, anders zu sein als ihre Mitschüler — andere Interessen zu haben, von ihren Altersgenossen nicht verstanden zu werden.

Durch ihr eigenes hohes Tempo geht ihnen alles viel zu langsam, sie können in der Schule die Antwort der anderen kaum erwarten, platzen mit der eigenen Lösung sofort heraus, werden ungeduldig und aggressiv. Natürlich machen sie sich dadurch erst recht unbeliebt.

Da sich das Tempo in der Schule dem Mittelmaß anpassen muß, langweilen sie sich; die für die anderen Schüler notwendigen häufigen Wiederholungen und Übungen gehen ihnen auf die Nerven, sie werden ungeduldig, schwätzen, stören oder versuchen, sich mit etwas anderem zu beschäftigen.

Andererseits können sich die Mitschüler nicht vorstellen, daß jemand schneller und leichter lernt und ein besseres Gedächtnis hat als sie selbst. Die begabten Schüler werden dadurch in eine Außenseiterrolle gedrängt und von ihren Kameraden abgelehnt. Die hochbegabten Kinder leiden daher meist in zweifacher Hinsicht: einerseits durch Unterforderung, Langeweile und geistige Unausgefülltheit, andererseits durch die Schwierigkeiten mit ihrer Umwelt.

Die Folgen dieser seelischen Belastung können schwerwiegend sein: entweder stellen sich Uber-angepaßtheit, Minderwertigkeitsgefühle, Kontaktarmut, Konzentrationsstörungen, Ängste und Depressionen ein oder die Kinder werden launenhaft, provokant und aggressiv.

Der Mannheimer Kinderpsychiater Martin H. Schmidt wurde auf dieses Problem aufmerksam, als er feststellte, daß sich unter seinen Patienten ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz von Kindern mit «hohem Intelligenzquotienten befand.

Der Extremfall dieser Entwicklung ist der „hochbegabte Schulversager“ - ein Kind, dessen Aktivifcät so lange gebremst wurde, bis es nach einiger“ Zeit bemerkte, daß es auch ohne Arbeit ganz gut geht. Nach mehreren Jahren haben sich aber große Wissenslük-ken gebildet; das Kind hat auch nie gelernt, richtig zu arbeiten und sich anzustrengen und fällt plötzlich in der Schule durch.

Um diesen Kindern zu helfen und um zu verhindern, daß Jahr für Jahr eine große Zahl von Begabungen auf diese Weise verlorengeht, ja vergeudet wird, müssen Eltern und Lehrer über die Merkmale der Hochbegabung ebenso informiert werden wie über die Gefahren bei falscher Erziehung.

Es müssen aber auch Möglichkeiten geschaffen werden, den Hochbegabten zu helfen, ihre Talente zu entwickeln.

Der Autor ist AHS-Professor in Graz.

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