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Meutern gegen die Raketen

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Nachdem Moskau im vergangenen Jahr bei seinem Versuch gescheitert war, die NATO-Nachrüstung zu verhindern, begannen die Sowjets Anfang 1984 mit einer eigenen Nach-Nach-rüstung in Osteuropa. Doch die neuen Raketen aus der UdSSR sind den verbündeten Genossen offensichtlich im höchsten Maße unwillkommen.

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Nachdem Moskau im vergangenen Jahr bei seinem Versuch gescheitert war, die NATO-Nachrüstung zu verhindern, begannen die Sowjets Anfang 1984 mit einer eigenen Nach-Nach-rüstung in Osteuropa. Doch die neuen Raketen aus der UdSSR sind den verbündeten Genossen offensichtlich im höchsten Maße unwillkommen.

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In den letzten 20 Jahren ist das weltweite militärische Kräfteverhältnis infolge des Ausbaus und der Modernisierung der sowjetischen Streitkräfte immer mehr zum Nachteil der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten verschoben worden. Wie der ehemalige NATO-Generalsekretär Joseph Luns vor etwa zwei Jahren in seinem Vorwort zu der offiziellen NATO-Studie mit dem Titel „Kräftevergleich NATO und

Warschauer Pakt" betonte, wurde durch diese vom Osten vorangetriebene Entwicklung die Abschreckungskraft der westlichen Allianz immer stärker gefährdet.

Dabei ist es klar, daß gerade diese .Abschreckungskraft" — das sogenannte „Gleichgewicht des Schreckens" — es dem Westen ermöglichte, den Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, aber auch anderswo in der Welt in globalem Rahmen zu bewahren, beziehungsweise kriegerische Auseinandersetzungen auf anderen Kontinenten zu begrenzen.

Eine besondere Gefahr für die westliche Welt wuchs mit dem rapiden Ausbau der sowjetischen strategischen Raketenwaffen und auch hier in erster Linie durch die stillschweigende Vermehrung beziehungsweise Neuinstallierung von nuklearen Mittelstreckenraketen, den berühmt-berüchtigten SS-20 Raketen, die seit 1977 bekanntlich gegen Westeuropa, aber auch gegen China und Japan aufgestellt werden.

1974, also vor der KSZE-Konferenz in Helsinki, wurden das obere Parteigremium der UdSSR und die führenden Männer der Sowjetarmee zu einer Geheimkonferenz in Moskau zusammengerufen, wo der damalige KPdSU-Chef Leonid Breschnew zur zukünftigen Außenpolitik der Sowjetunion folgendes erklärt hatte:

„Wir Kommunisten müssen eine Zeitlang mit den Kapitalisten zusammenarbeiten. Wir brauchen deren Technologie und Landwirtschaftsprodukte. Aber wir werden unsere massiven Rüstungsprogramme fortsetzen und Mitte der achtziger Jahre in der Lage sein, zu einer wesentlich härteren Außenpolitik zurückzukehren, um in unseren Beziehungen zum Westen die Oberhand zu gewinnen."

Diese Aussage kann man als die Geburtsstunde der SS-20-Rake-ten ansehen.

Die osteuropäische Bevölkerung war auf den massiven Zuwachs der sowjetischen Streitkräfte in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre weder propagandistisch noch publizistisch vorbereitet worden. Und als 1983 in Westeuropa die amerikanischen Pershing-II-Rak^ten — als Antwort auf die SS-20-Raketen - erschienen, waren die Bürger Osteuropas im wahrsten Sinne des Wortes wie vor den Kopf gestoßen. Was sollte diese bedrohliche weltpolitische Entwicklung bedeuten?

Da die eigenen Informationsmedien — wie üblich in solchen Fällen - keine befriedigende Antwort geben konnten, hörte ein großer Teil der Bevölkerung - wie immer in Krisensituationen — die von München aus ausgestrahlten Rundfunkprogramme von „Radio Free Europe" und „Radio Liberty" ab.

Die zweite wichtige Informationsquelle der osteuropäischen Bevölkerung zur Frage der 1983 durch die NATO-Nachrüstung veränderten Raketen-Landschaft in Europa stammte aus der Sowjetunion selbst. Die Moskauer Propagandazentrale, die Agit-Prop-Abteilung des ZK der UdSSR, hatte nämlich in der Angelegenheit der westeuropäischen Friedensbewegungen zwei kapitale Fehler gemacht.

Zum ersten: Sie ließ über Wirken und Ziele der westeuropäischen Friedensbewegung laut und viel zu oft in den osteuropäischen Medien berichten, und damit hatte sie die Menschen auf die beiderseitige Aufstockung der Nuklear-Waffen in Europa aufmerksam gemacht.

Und zweitens: Moskau baute viel zu fest auf die Wirksamkeit dieser westlichen Friedensbewegung, in der Hoffnung, daß diese letztlich das Nachrüstungsprogramm der NATO zu Fall bringen könnte. Dies war nicht der Fall, und die Sowjetunion mußte — um ihr Gesicht nicht zu verlieren — im Herbst 1983 lautstark verkünden: Die angedrohten Gegenmaßnahmen würden durchgeführt und neue Nuklear-Raketen in Osteuropa installiert.

Moskau ließ den Westen augenblicklich wissen, daß es nun seinerseits „in kürzester Zeit" in der DDR, CSSR und später auch in Bulgarien mit der Aufstellung neuer Kurzstrecken-Raketen der Typen SS-21, SS-22 und SS-23 -mit Reichweiten von etwa 120 bis 1.000 Kilometern — beginnen würde (siehe Kasten).

Vorangegangen war diesem Schachzug ein Treffen der Mitglieder des Warschauer Paktes im Juni 1983, wo die sowjetische Führung eine gemeinsame Stellungnahme in der Sache der neuen Ra-'keten verabschieden wollte. Dies mißlang, da Rumänien sich weigerte, dies gutzuheißen und Bulgarien - sonst ein treuer Vasall Moskaus — ebenfalls keine Raketen auf seinem Territorium wünschte. Ja es kam so weit, daß der bulgarische Parteichef Schiwkoff, kaum zurück in Sofia, vor westlichen Journalisten bei passender Gelegenheit öffentlich für eine atomwaffenfreie Zone auf dem Balkan plädierte!

Auch andere Verbündete Moskaus hatten weder Lust noch Interesse, ihr Territorium für neue sowjetische Raketen zur Verfügung zu stellen. Und sie waren auch nicht an einer Verhärtung der Ost-West-Verhältnisse interessiert. Denn inzwischen hatten einige osteuropäische Länder — vor allem die DDR und Ungarn — ausgezeichnete wirtschaftliche Beziehungen mit dem Westen (namentlich mit Bonn) aufgebaut. Dies sollte jetzt alles verlorengehen — nur weil man in Moskau eine neue Eiszeit für die Ost-West-Beziehungen ausgerufen hatte?

Die politische Lage in Moskau

Moskaus NachNachrüstung

SS-21:

Ersetzt die Kurzstreckenwaffe Frog-7. Reichweite: 120 Kilometer; Streukreisradius: 300 Meter. Eignet sich sowohl zum konventionellen wie zum taktisch-atomaren Einsatz. Wird seit 1978 in den westlichen Militärbezirken in der Sowjetunion sowie bei den sowjetischen Truppen in der DDR eingeführt. Als Stationierungsland vorgesehen ist auch die Tschechoslowakei. SS-22:

Ersetzt die SS-12 „Scalebo-ard". Reichweite: 800 bis 1.000 Kilometer; Sprengkraft: ca. 500 Kilotonnen. Die SS-22 wird seit Jänner 1984 in der DDR, CSSR und in Polen eingeführt. SS-23:

Ersetzt die Scud A/B-Rake-te. Reichweite: 500 bis 550 Kilometer. Die SS-23 wird seit Jänner 1984 bei den sowjetischen Truppen in der DDR und CSSR eingeführt.

ausnützend — Andropow lag damals im Sterben, ein neuer Chef war noch nicht nominiert — begannen sich die Verbündeten den sowjetischen militärischen Bestrebungen in Osteuropa gegenüber quer zu legen.

So sagte etwa DDR-Außenminister Fischer zu seinem schwedischen Kollegen Bodström im Oktober 1983, daß die Warschauer Paktstaaten im Rahmen der Nach-Nachrüstung zu verschiedenen Maßnahmen „gezwungen werden, die sie eigentlich nicht wollen".

Im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland" — sonst stets linientreu und preußisch-sozialistisch Pakt-verbunden — wurde im Herbst 1983 ein Leserbrief veröffentlicht, in dem eine Mutter ihr „Entsetzen" kundtut, daß nun auch „auf unserem Territorium entsprechende atomare Gegenmaßnahmen eingeleitet werden und wir und unsere Kinder unmittelbar mit Atomraketen leben müssen..."

Einige Wochen später meinte SED-Chef Erich Honecker in Eisenhüttenstadt in Gegenwart des österreichischen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger über die Raketen: „Wir wollen das Teufelszeug hier nicht haben!" (Quelle: Willi Brandt).

Dem bundesdeutschen Kanzler Helmut Kohl schrieb Honecker -freilich nicht in den letzten Wochen, sondern zu Beginn des deutsch-deutschen Flirts -, „es sei besser, weiterzuverhandeln als hochzurüsten!"

Auch in der CSSR begann sich eine — wenn auch sachte — Protestbewegung gegen die neuen SS-Raketen zu rühren. Abgesehen von der Tatsache, daß in der CSSR seit 1968 die sowjetischen Truppen nur ein „provisorisches Stationierungsrecht" besitzen (offiziell sollten sie nach der Herstellung der Ordnung im Lande wieder abziehen), haben die Sowjets bereits im Dezember 1983 mit der Aushebung neuer Stellungen für ihre SS-Raketen begonnen.

Die Bürgerrechtsbewegung Charta-77 versuchte gegen diese Maßnahme Front zu machen. Sie war schwach, trotzdem konnte sie einige - kleinere - Erfolge verbuchen, obwohl die CSSR-Bevölke-rung seit den 1968er Ereignissen politisch noch immer völlig apathisch ist.

Rumänien, das seit Anfang der siebziger Jahre eigentlich nur noch nominell zum Warschauer Pakt gehört, wo keine sowjetischen Garnisonen vorhanden sind und das bei gemeinsamen Paktmanövern lediglich 100 bis 180 (nie über 200!) Soldaten unter seiner Nationalfahne aufmarschieren läßt — in diesem Rumänien sagte der Staats- und Parteichef Ceau-cescu anläßlich der August-Staatsfeier in Bukarest, daß er persönlich gegen jegliche atomare Aufrüstung sei. Wörtlich meinte er:

„Ein Atom-Krieg wird die ganze Menschheit schrecklich treffen, wird die menschliche Spezies selbst in Frage stellen, und in seinen Flammen werden wahllos alle Gesellschaftsordnungen, die Träger aller Ideologien, verbrennen. Also wird es — gleichgültig, wer ihn auslösen wird — ein Krieg der selbstmörderischen Mörder sein!"

Ceaucescu weiter:

„Im Kernkrieg werden das Kriterium des Klassenkampfes, das Kriterium der Gesellschaftsordnung, das Kriterium der Ideologie jegliche Bedeutung verlieren und vollständig wirkungslos werden. Das ist ein vollständig neues Problem für die Menschheit!"

Kein Wort also über die Möglichkeit eines „gerechten Krieges" der „fortschrittlichen Kräfte" des Sozialismus gegen die „westlichen Imperialisten"; keine Silbe über die „lebensnotwendige Verstärkung" des eigenen, roten Nu-klear-Arsenals! Ceaucescu sagte genau das Gegenteil:

„Die Einschätzung, daß die Atombombe je nach Gesellschaftsordnung, der sie gehört, als Waffe des Todes oder des Lebens erachtet werden kann, ist im internationalen Propaganda-Arsenal noch anzutreffen, wie bestürzend sie auch scheinen mag!"

Wir wiederholen: „ ... im internationalen Propaganda-Arsenal ..." Also im Wortgebrauch beider Großmächte, also auch bei den Sowjets! Schließlich meint der rumänische KP-Chef:

„Die Atomrüstung kann, sobald es ein gewaltiges Kernwaffenpotential gibt, weder von der einen noch von der anderen Seite mehr als notwendig erachtet werden. Die Fortsetzung der Atomrüstungsspirale kann durch keine Überlegung gerechtfertigt werden, weder vom Standpunkt der eigenen Sicherheit aus noch vom Interesse für den Weltfrieden.

Die Verbreitung der Sicherheitsidee als politische Abschirmung für den nuklearen Rüstungswettlauf bewirkt nichts weiter, als die Öffentlichkeit zu verwirren! Durch die Verschärfung des Wettrüstens wächst die Sicherheit keineswegs, sondern fällt progressiv und steil auf den Nullpunkt ..."

So stoßen die Sowjets mit ihrem Nach-Nach-Rüstungs-Pro-gramm bei ihren osteuropäischen Verbündeten auf keine Gegenliebe. Denn diese sowjetischen Maßnahmen sind den eigenen nationalen Interessen diametral entgegengesetzt.

Nur widerwillig und unter Druck beugen sie sich dem sowjetischen Willen und versuchen innerhalb ihres begrenzten politischen Spielraums alles mögliche, um die Stationierung der neuen SS-Nuklearwaffen-Generation, wenn schon nicht zu verhindern, dann doch wenigstens zu verzögern.

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