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Milch und Utopien

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Nach seinem überwältigenden Sieg in den Regionalwahlen vom 4. April hat Chiles linker Präsident Dr. Salvador Allende die politische Bewegungsfreiheit, die er braucht, um seine ehrgeizigen Reformpläne anzupacken. Zunächst steht im angekündigten Besuch von Fidel Castro ein Spektakel für den ganzen Kontinent bevor. Nachher wird sich zeigen, ob der Mann, auf den das Volk der Chilenen offensichtlich all seine Hoffnungen gesetzt hat, ein Realist oder ein Träumer ist. Als ein Mann, der Widerstände ebenso elegant zu umschiffen wie Versprechungen unverzüglich in die Tat umzusetzen vermag, hat er sich bereits erwiesen.

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Nach seinem überwältigenden Sieg in den Regionalwahlen vom 4. April hat Chiles linker Präsident Dr. Salvador Allende die politische Bewegungsfreiheit, die er braucht, um seine ehrgeizigen Reformpläne anzupacken. Zunächst steht im angekündigten Besuch von Fidel Castro ein Spektakel für den ganzen Kontinent bevor. Nachher wird sich zeigen, ob der Mann, auf den das Volk der Chilenen offensichtlich all seine Hoffnungen gesetzt hat, ein Realist oder ein Träumer ist. Als ein Mann, der Widerstände ebenso elegant zu umschiffen wie Versprechungen unverzüglich in die Tat umzusetzen vermag, hat er sich bereits erwiesen.

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Dies gilt etwa für die Anpassung der Löhne an die Inflationsspirale des Vorjahres: sie wurden um 35 Prozent — für die schlechtest- bezahlte Gruppe weit mehr — erhöht. Gleichzeitig sind die Preise nicht nur wie in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern theoretisch eingefroren, sondern durch eine scharfe Kontrolle wurde jede Preissteigerung verhindert. Die Erhöhung der Elektrizitätspreise wurde rückgängig gemacht.

Da ein alarmierender Prozentsatz der chilenischen Kinder völlig ohne Milch aufwächst, hat die Regierung in Erfüllung ihrer Wahlversprechen verfügt, daß jedes Schulkind pro Tag einen halben Liter Milch — demnächst auch Frühstück und andere Mahlzeiten — erhält. Auf derselben Ebene, und keineswegs als Populari-

600 Millionen Dollar — logischer- weise — unterließ, als die totale Nationalisierung sich abzeichnete, während die „Kennecott” in den letzten Jahren 250 Millionen Dollar in die Kupfermine „El Teniente” investiert hat

Der zweite große Programmpunkt, die Agrarreform, begegnet Schwierigkeiten auf beiden Seiten. Die Regierung will denjenigen Teil der land- und viehwirtschaftlich genutzten Grundstücke enteignen, der über eine bestimmte Größe hinausgeht, der Eigentümer behält, wenn er sein Land gehörig bearbeitet, eine „angemessene Einheit”. Sie schwankt je nach Bodem und Lage zwischen 80 — bei optimalen Boden- und Bewässerungsbedingungen — und etwa 400 Hektar. Da die Landbesitzer diese Maßnahmen erwarten, bestellen sie ihre Äcker nicht und sollen in einigen Fällen auch ihre Häuser abreißen.

Auf der Anfang März abgehaltenen Tagung der Kommunistischen Partei wurde den Großgrundbesitzern deshalb vorgeworfen, die Agrarproduktion mit dem Ziele zu sabotieren, Chile dem Hunger auszuliefern. Auf der anderen Seite haben ungeduldige Elemente Güter auf eigene Faust besetzt, ohne die kleineren, von der geplanten Reform nicht betroffenen Besitztümer zu respektieren. Allende, der so zwischen zwei Feuern steht, hat die illegalen Akte mit großer Energie unterdrückt. Der Agrarminister Jacques Chonchol erklärte, er habe in den ersten zwei Monaten dieses Jahres im Süden des Landes 212 Güter mit insgesamt

790.0 Hektar enteignet und beabsichtige in diesem Jahr insgesamt weitere 1000 zu enteignen.

Dagegen ist es der neuen Regierung nicht gelungen, das alarmierende Wohnungsdeftzit wirksam zu bekämpfen. Der zuständige Minister Carlos Cortes erklärte der Presse, daß die chilenische Regierung in diesem Jahr im Rahmen des sozialen Wohnungsbaues 100.000 Wohnungen errichten und gleichzeitig das Straßen-, Wasser- und Lichtnetz auf

110.0 Grundstücke ausdehnen wolle. Hierbei sollen auch 22.000 Menschen wieder in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden.

Allende selbst hat das Problem der Arbeitslosigkeit als das dringendste bezeichnet. Die Geschäftsleute und Industriellen scheinen zwar die Panikstimmung, die nach dem Wahlsieg Allendes in weiten Kreisen herrschte, angesichts seines behutsamen Vorgehens überwunden zu haben, da aber Löhne und Steuern erhöht wurden, ohne daß sie die Preise steigern dürfen, zweifeln viele an der Möglichkeit, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Jedenfalls vermeiden sie alle Neuinvestitionen, und die Unkosten werden nach Möglichkeit eingeschränkt.

Dadurch hat die Arbeitslosigkeit eine neue Rekordziffer erreicht. Die

Regierung selbst gibt 300.000 Arbeitslose (etwa 10 Prozent der aktiven Bevölkerung) an. In Wirklichkeit ist die Zahl in Anbetracht von Kurzarbeit usw. viel größer. Allende fordert, daß die chilenischen Arbeiter einige Stunden pro Woche ohne Entgelt arbeiten sollen, um die Produktion zu erhöhen. Die Reaktion auf diesen Vorschlag wird eine Antwort auf die Frage geben, ob er wirklich eine „neue Moral” vom Volk erwarten darf.

Allende hält sich an die demokratischen Formen. Er hat den Gesetzentwurf über die Schaffung von Sozialgerichten, die in Laienbesetzung etwa über Streitfragen zwischen Nachbarn ■ entscheiden sollten, zurückgezogen, als der Oberste Gerichtshof dagegen protestierte und die Parlamentsmehrheit ihm widersprach. Er respektierte das Streik- recht und die Pressefreiheit. Allende hat gleichzeitig auf legalem Wege mit der erfolgten Verstaatlichung des Bankwesens und der bevorstehenden des Außenhandels die bisher herrschende Schicht weitgehend ausgeschaltet und der Arbeiterschaft durch sein Abkommen mit den Gewerkschaften ein beachtliches Mitbestimmungsrecht eingeräumt.

Doch der Plan, die Wirtschaft durch den Banknotendruck anzukurbeln (der Geldumlauf wird sich 1971 um 70 Prozent erhöhen), gleichzeitig die Inflationsspirale von 35 auf 0 Prozent zu senken und noch dazu ein zehnprozentiges Wachstum des Nationalproduktes zu erzielen, klingt utopisch.

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