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Milchfrau in Wäliring

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Zum Tod der Schriftstellerin Alja Rachmanova, die in den dreißiger Jahren Bestsellerautorin war

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Zum Tod der Schriftstellerin Alja Rachmanova, die in den dreißiger Jahren Bestsellerautorin war

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Der erste Tag in unserem Geschäft! Es kreiste mir alles nur so im Kopf herum: diese neuen Gesichter, die mich mit unverhohlener Neugier anstarrten, und vor allem diese vielen neuen Namen! Wie soll ich mir alle diese Gruber und Huber und Meier, diese Ondra-schek und Zalodek merken? Und dann: Ich darf nicht vergessen, daß die Frau Novotny zur Jause ein Zuk-kerkipferl und zum Nachtmahl einen Patentwecken braucht, daß dem Herrn Chwatal ein Viertelliter Milch vorbereitet werden muß und daß die Frau Suchomel Freitag abend einen frischen Liptauer wünscht..."

„Milchfrau in Ottakring" - einer der Longseiler der dreißiger Jahre. 1931 erscheint das Buch zum erstenmal, immer wieder erlebt es Neuauflagen, zuletzt 1979 - nun schon dem hundersten Tausend nahe! - bei einer der großen Buchgemeinschaften, dazu Übersetzungen in 21 Sprachen. Es ist der Schlußband einer Trilogie: „Studenten, Liebe, Tscheka und Tod" sowie „Ehren im roten Sturm" 6ind ihm vorausgegangen. Thema: Die dunklen Seiten des bolschewistischen Umsturzes in der jungen Sowjetunion. Der beginnende Gesinnungsterror, die Verfolgung alles Religiösen und der zwar politisch ungefährliche, aber ökonomisch nicht minder heikle Versuch, im Westen ein neues Leben zu beginnen. Autorin der romanhaft angelegten Autobiographie ist eine gewisse Alja Rachmanova: eine russische Emigrantin, die, der kommunistischen Heimat entfremdet, in Österreich Zuflucht gefunden hat. Jetzt, drei Monate vor ihrem 93. Geburtstag, ist sie an ihrem Schweizer Alterssitz Ettenhausen im Thurgau gestorben.

Alja Rachmanova ist ihr Schriftstellerpseudonym. Die Arzttochter Alexandra Galina Djurjogina aus dem Ural, Jahrgang 1898, hat in ihrer Heimat Literaturgeschichte und Psychologie studiert. Mit 23 lernt sie einen soeben aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassenen Österreicher kennen: Arnulf Hoyer will Lehrer werden. Man heiratet, 1925 wird das junge Paar ohne Angabe von Gründen aus der Sowjetunion ausgewiesen. Mitten im tiefsten Winter trifft die Familie, zu der auch noch ein Kleinkind namens Jurka gehört, in Wien ein. Eine erste Bleibe findet man in einem schäbigen Vorstadthotel, dann wird in eines der Barackenquartiere des sogenannten „Neger-dörfels" übersiedelt, das die „Gesellschaft für Notstandswohnungen" noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs für obdachlose Familien in Ottakring errichtet hat - es ist jener Abschnitt der Gablenzgasse, wo sich seit 1956 der riesige Gemeindebau Franz-Novy-Hof befindet.

Das bolschewistische Rußland liegt nun zwar glücklich hinter ihnen, doch auch der Neuanfang in Wien gestaltet sich schwierig: Arnulf Hoyer findet keine Arbeit. In ihrer Verzweiflung - und im festen Willen, ihrem Mann die Fortsetzung seines Universitätsstudiums und den Erwerb des Doktorgrades zu ermöglichen - beschließt Alja Rachmanova-Hoyer, die Familie mit einem kleinen Milchladen durchzubringen, den sie mit geborgtem Geld erwirbt. Als Ausländerin im selber notleidenden Wien ein mehr als kühnes Beginnen: Alle sagen der Fremden eine baldige Pleite voraus. Demütigung, Entbehrung und Betrug gehören fortan zu ihrem Alltag. Doch sie steht es durch, ist von Februar 1926 bis Juli 27 „Milchfrau in Ottakring". Und noch ein Übriges tut sie: Sie schreibt ihre Erfahrungen aus j enen Elendsjahren nieder und bringt sie als Buch heraus, auf russisch konzipiert, von ihrem Mann ins Deutsche übersetzt - ein menschliches Dokument ersten Ranges. Vielleicht nicht gerade, was man hohe Literatur nennen könnte, dafür umso authentischere Zeitzeugenschaft.

Aus Angst vor dem langen Arm kommunistischer Rachejustiz vernichtet die Autorin sämtliche Originalmanuskripte, was zur Folge

hat, daß es bis heute keine russisch-sprachige Ausgabe ihrer Bücher gibt. Sie würden im Zeichen von Glasnost und Perestrojka - nicht zuletzt ihrer volkstümlich-einfachen Sprache wegen - mit Gewißheit Massenauflagen erzielen.

Milchfrau in Ottakring" wird das mit Abstand erfolgreichste ihrer Bücher. Weitere folgen, darunter Romanbiographien über Dichtergefährtinnen wie Sonja Tolstoi oder Anna Grigorjewna

Dostojewskaja. Inzwischen ist man von Wien nach Salzburg übersiedelt: Hier erhält Alja Rachmanova eine Dozentur für Kinderpsychologie, und ihr Mann findet eine Stelle als Mittelschullehrer. Neue Schwierigkeiten treten mit dem „Anschluß" auf: Der gebürtigen Russin, die obendrein Kontakte zum österreichischen Klerus unterhält, wird die Aufnahme in die Reichs-schriftturnskammer verwehrt, und das bedeutet: Sie ist mit Schreibverbot belegt. Als sich freilich die Niederlage von Stalingrad abzeichnet, setzen die Nationalsozialisten Alja Rachmanovas Bücher als Propagandamittel ein - gegen den Willen der Autorin. Die Folge: Als 1945 die Sowjets in Österreich einmarschieren, flieht sie vor der Roten Armee in die Schweiz. Schon vorher hat sie ein zweites schweres , Opfer bringen müssen: Ihr einziger Sohn fällt zu Ostern 1945 als Soldat der Deutschen Wehrmacht bei Wiener Neustadt.

Abermals muß Alja Rachmanova ganz von vorn anfangen: Die Schweiz wird ihr drittes (und letztes) Zuhause. Aber auch an ihrer einstigen Zwischenstation Wien bleibt sie unvergessen: Immer wieder unternehmen begeisterte Leser der Milchfrau-Saga den Versuch, den legendären Schauplatz des Geschehens, den originalen Milchladen von 1926/27, ausfindig zu machen. Vor allem in Ottakring regt

sich vehementes lokalpatriotisches Interesse, den Realitätsgehalt eines Erfolgsbuches zu verifizieren, das den Namen des Bezirks in die Literatur des 20. Jahrhunderts eingeführt und europaweit bekanntgemacht hat.

Man geht dabei systematisch vor: durchkämmt den Buchtext nach „verräterischen" Ortsangaben, wälzt alte Adreßbücher und Branchenverzeichnisse, prüft Einwohnermeldekarteien, grast auch die entlegensten Ecken Ottakrings ab, befragt Hausparteien und kommt schließlich - über versteckte Hinweise auf eine in nächster Nähe befindliche Tabaktrafik, eine Radiofabrik und ein Kino als Hauptindizien - zu einem überraschenden Ergebnis: Die Milchfrau in Ottakring war in Wahrheit eine Milchfrau in Währing! Ecke Hildebrandgasse/Schumanngasse befand sich der ominöse Laden. Heute ist nichts mehr davon da, hier sind im Zweiten Weltkrieg Bomben gefallen, nur sehr betagte Anrainer können den spektakulären Fund bestätigen, der Neubau verrät darüber nichts.

Wieso Alja Rachmanova, die sich bei ihren Schilderungen ansonsten streng an die Realität gehalten hat, in diesem Punkt dichterische Freiheit walten ließ, läßt sich nur vermuten: Der Arbeiterbezirk Ottakring mag ihr als der adäquatere Hintergrund für ihr Elendsdrama erschienen sein, als die stimmigere Kulisse. Auch Sprachliches könnte hineinspielen: „Milchfrau in Ottakring" nimmt sich klangvoller aus als „Milchfrau in Währing".

Müssen die Ottakringer, solcherart um ihren berühmten Romanschauplatz geprellt, nun also den Kopf hängen lassen? Sie müssen nicht. Die Recherchen wurden fortgesetzt - und was stellte sich an deren Ende heraus? Alja Rachmanovas Notwohnung in ihrer ersten Wiener Zeit, also das Barackenquartier in der Gablenzgasse, grenzte an einen winzig kleinen Greißlerladen, in dem sie mit größter Wahrscheinlichkeit ihre eigenen täglichen Einkäufe getätigt hat, und es spricht alles dafür, daß sie in die Szenerie ihres Romans auch mancherlei Züge dieses (von einer gewissen Aloisia Sedlak betriebenen) Geschäfts hat einfließen lassen, und so wendet sich für eingefleischte Lokalpatrioten schließlich doch noch alles zum Guten: Zumindest zur Hälfte ist die „Milchfrau in Ottakring" tatsächlich eine Otta-kringerin.

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