7046241-1990_34_10.jpg
Digital In Arbeit

Milchstraße mit Löchern

19451960198020002020

Ronald Weinberger fand bei der mikroskopischen Untersuchung fotografi- scher Platten heraus, daß die Milchstraße durchsich- tig ist wie ein weitmaschi- ges Gewebe.

19451960198020002020

Ronald Weinberger fand bei der mikroskopischen Untersuchung fotografi- scher Platten heraus, daß die Milchstraße durchsich- tig ist wie ein weitmaschi- ges Gewebe.

Werbung
Werbung
Werbung

Jedes Schulkind weiß, was die Milchstraße ist. Daß der helle Strei- fen, den wir immer weniger deut- lich am immer weniger dunklen Nachthimmel sehen und den die alten Griechen Milchstraße nann- ten, dem riesigen System von 100 Milliarden Sternen und Tausenden kugelförmigen Sternhaufen, in dem die Sonne ein winziges Pünktchen ist, den Namen gegeben hat.

Und daß die schätzungsweise 200 Milliarden Galaxien im Kosmos mit Milch nichts zu tun haben.

Unsere Heimatgalaxie ist ein fla- ches Gebilde, vergleichbar einer Linse oder Spirale, und der helle Streifen am Himmel entsteht da- durch, daß wir einfach viel mehr Sterne sehen, wenn wir durch diese Linse zu ihrem „Äquator" blicken, als wenn wir auf dem kürzesten Weg hinausschauen. Da hier nichts dem Blick im Weg ist, konnte man schon im 18. Jahrhundert feststel- len, daß es am Himmel nicht nur Sterne gibt, sondern auch winzige spiralförmige Gebilde. Schon Kant entwickelte die Idee, daß es sich dabei um gigantische Sternsysteme handeln könnte.

Die Milchstraße, das Band am Himmel, ist ein so dichtes Gewim- mel von Sternen, daß es selbst die größten Fernrohre nur teilweise in Einzelsterne auflösen. Aber da die Sterne Lichtjahre voneinander entfernt sind, behindern den Durch- blick vor allem die Staubmassen,

die rund ein Tausendstel der Masse unserer Galaxie ausmachen.

Ein Blick quer durch dieses Sy- stem und auf der anderen Seite hinaus auf ferne Galaxien war also nicht das, was die Astronomen für möglich hielten und wonach sie Ausschau hielten - bis sich heraus- stellte, daß dieser Blick möglich ist.

Den Nachweis erbrachte ein Österreicher. Ronald Weinberger arbeitete noch an einer deutschen Universität, als er vor rund zehn Jahren feststellte, daß ins Sternen- gewimmel der Milchstraße Gala- xien eingestreut sind, was bedeu- tet, daß die sichtbehindernden Staubmassen an diesen Stellen Durchlässe haben. Er spricht von „Tunnels" - ein treffender Aus- druck angesichts der Tatsache, daß man Galaxien auf der anderen Sei- te der Milchstraße nur sehen kann, wenn sich die Staubmassen in mehreren Spiralarmen der Galaxie in einer Konstellation befinden, in welcher der Blick freigegeben wird.

Undurchsichtig, ganz und gar „dicht", ist lediglich die Umgebung

des Zentrums unserer Galaxie, in dem viele Kosmologen ein gewalti- ges „Schwarzes Loch" vermuten: eine Zone, in der die Anziehungs- kraft zu unvorstellbarer Dichte komprimierter Materie so stark ist, daß selbst das Licht zu schwer wird, um ihr zu entkommen.

Der Tunnelblick wird wohl je- weils nur vorübergehend freigege- ben, die galaktischen Staubmassen sind ebenso wie die Sterne in Bewe- gimg. Aber selbst ein „kosmischer Augenblick" dauert lang im Ver- hältnis zu einem Menschenleben. Da die moderne Astronomie noch jung ist, steht die Erforschung der Veränderungen am Himmel erst am Anfang. Die Klärung der Lebens- dauer der „Tunnels" wird mögli- cherweise auch Aufschlüsse über die Bewegung und Verteilung der galaktischen Staubmassen liefern.

Weinberger publizierte das Phä- nomen, ließ es aber in der Zwi- schenzeit auf sich beruhen, ehe er sich wieder da- mit zu befassen begann. Er ar- beitet derzeit am Astronomischen Institut der Uni- versität In- nsbruck.

Die Wieder- entdeckung ei- ner zehn Jahre zurückl iegenden Entdeckung ist kein Zufall. Die Möglichkeit, „Antipoden-Ga- laxien" in der Äquatorialebe- ne unseres Milchstraßensy- stems zu beob- achten, kommt derzeit beson- ders gelegen, da die Großvertei- lung der Gala- xien im Kosmos besonders inten- siv erforscht wird. Dies wie- derum hängt mit der Überprü- fung und Verfei- nerung des kos- mologischen „Standardmo- dells", also der Theorie, daß der Kosmos aus ei- nem Urknall hervorgegangen ist, zusammen.

Einst meinte man, der Kos- mos sei unend- lich in Zeit und Raum und gleichmäßig mit Sternen erfüllt. Andererseits wurde bereits im 18. Jahrhundert argumentiert, daß in einem un-

6 80

endlich großen, unendlich alten Kosmos mit unendlich vielen Ster- nen notwendigerweise aus allen Richtungen unendlich viel Licht einfiele, das diesen Kosmos in un- endlich kurzer Zeit verbrennen würde - die Existenz eines solchen Kosmos sei folglich unmöglich.

Heute schlägt sich die Kosmolo- gie mit der durch Beobachtimg ge- wonnenen Erkenntnis herum, daß auch die Galaxien alles andere als gleichmäßig im Raum verteilt sind. Galaxien, Galaxienhaufen und „Superhaufen" scheinen Struktu- ren zu bilden, in denen die Gala- xien wie superdünne Häute von Sei- fenblasen um gigantische Hohlräu- me angeordnet sind.

Es ist derzeit ein Hauptproblem der Kosmologie, den heutigen Zu- stand des Universums aus dem abzuleiten, was man über die Ex- pansion einer Gasmasse weiß, de- ren Ausgangstemperatur und -dich- te sich jeder Berechenbarkeit ent- zieht. Zwar hat man sich bereits

„Galaxienhaufen wie super- dünne Häute um gigantische Hohlräume"

Sekundenbruchteile an den Urknall „herangerechnet" - doch stimmt die kosmische Gegenwart nicht mit der Struktur überein, die sich erge- ben haben sollte, wenn sich die ex- pandierende Materie so verhielt, wie es die Physik von ihr erwartet. Ge- sucht wird die Brücke von der Urknall-Mathematik zur beobach- tend ermittelten Galaxienvertei- lung. Daher der aktuelle Stellen- wert der „Tunnels".

Weinberger entdeckte sie nicht bei der Arbeit am Fernrohr, son- dern am Mikroskop. Das menschli- che Auge erfaßt nur einen winzigen Bruchteil der Informationen, die eine viele Stunden lang belichtete Fotoplatte festhält. Eine Aufnah- me kann mehrere Nächte dauern, Präzisionsmotoren gleichen die Erddrehung aus. Die Einzelheiten der festgehaltenen Strukturen er- schließen sich nur bei mikroskopi- scher Auswertung.

Daher kann es Jahrzehnte dau- ern, bis jemand erkennt, welche Entdeckungen auf einer Platte schlummern. Da der Kosmos zu groß ist, um ein Phänomen nur einmal hervorzubringen (was man auf Tunneldurchblicke ebenso beziehen kann wie auf intelligentes Leben), wird jedes neue Phänomen hinter- her meist massenhaft beobachtet. Weinberger arbeitete mit Platten der vom Mount-Palomar-Observa- torium in den fünfziger Jahren durchgeführten „Palomar Obser- vatory Sky Suzvey" (POSS).

Die Einladung an das Innsbruk- ker Institut für Astronomie, die „Tunnel-Galaxien" mit den mäch- tigsten Radioteleskopen der Welt näher zu untersuchen, liegt vor.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung