6949823-1984_07_15.jpg
Digital In Arbeit

Minderbürger in Kleingemeinden ?

19451960198020002020

Für die Jahre ab 1985 ist ein neuer Finanzausgleich auszuhandeln. Die finanzschwachen Kleingemeinden erwarten, daß die bestehende Benachteiligung abgebaut wird.

19451960198020002020

Für die Jahre ab 1985 ist ein neuer Finanzausgleich auszuhandeln. Die finanzschwachen Kleingemeinden erwarten, daß die bestehende Benachteiligung abgebaut wird.

Werbung
Werbung
Werbung

So, als wäre ein Wettbewerb unter den Gebietskörperschaften ausgeschrieben, entwickelt sich in den letzten Monaten ein „Sport" um die Position des Allerärmsten. Bund, Länder, Städte, Gemeinden wissen, daß man in Hinkunft eher mit weniger Mitteln wird auskommen müssen. Aber jeder meint, die jeweils anderen müßten verzichten. Denn: Wir sind die Wichtigsten, wir sind am meisten verschuldet, wir bringen das meiste für die Wirtschaft...

Und so raufen und schreien sie alle. Je größer und mächtiger, umso lauter und wirkungsvoller. Der wirklich Kleine und schon Erschöpfte — die kleineren Gemeinden nämlich — bleibt auf der Strecke, wird im Kampf um den Sitzplatz der Bedürftigen übergangen, verdrängt, zerstört.

Es ist nicht zu erwarten — oder doch? —, daß die Größeren, Lautstärkeren und Mächtigeren von sich aus, aus Solidarität, auch die Kleineren mitleben lassen werden. Und wenn, dann nur, wenn man deutlich genug mit ihnen spricht. Letztlich, wenn sich die Mehrzahl der vielen Kleinen selbst wehrt, wenn es gelingt, die eigene Situation öffentlich darzustellen, quer durch Parteilager, jung und alt, Land und Stadt. Es braucht eine Koalition der Gerechtigkeit, eine wirkliche Solidarität, die gerade auch den Kleineren sieht und leben läßt.

Jetzt, konkret im Jahre 1984, werden die Verteilungssätze des neuen Finanzausgleichs, der die Anteile von Bund, Ländern und Gemeinden an den gemeinschaftlichen Bundesabgaben regelt, verhandelt.

Der Bund beansprucht einen immer höheren Anteil am Gesamtsteueraufkommen (z. B. die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die er nicht teilen muß). Die Großgemeinden erhalten durch den abgestuften Bevölkerungsschlüssel einen viel höheren ProKopf-Anteil an den auszuschüttenden Mitteln.

Die Kleingemeinden haben ohnedies wenig eigenes Steueraufkommen, weil sie wenig Betriebe beherbergen, und auch weil beispielsweise die Grundsteuer infolge des niedrigeren Bodenwertes viel weniger einbringt. Sie erhalten auch noch bei der Verteilung wenig.

Begründung: Die Kleingemeinden brauchen ohnehin nicht so viel. Brauchen sie wirklich nicht so viel, oder müssen sie nicht vielmehr mit weniger als sie nötig hätten, vegetieren, weil man ihnen nicht mehr gibt?

Man sagt: Die Statistik zeigt, daß die Pro-Kopf-Ausgaben mit der Gemeindegröße ansteigen.Dagegen steht: Größere hatten eben immer ein höheres Aufkommen und konnten daher mehr ausgeben. Daraus kann kein „Gewohnheitsrecht" abgeleitet werden.

Außerdem: Wenn man wirklich an diese Dynamik glaubt—warum bemüht man sich dann nicht, Städte nicht zu groß werden zu lassen, sondern die Leute in kleineren Gemeinden über das ganze Land verstreut zu erhalten?

Und: Wo am Land die ProKopf-Kosten höher sind, gibt es einfach weniger Angebote. Es gibt wegen der dünneren Besiedlung ein schlechteres Verhältnis Bewohner—Straßenlänge, höhere

Winterdienstausgaben pro Kopf, ungünstigere Verhältniszahlen bei Kanal- und Müllabfuhr

Man sagt: Am Land ist ja alles billiger. Dagegen steht: Auf vielen Produkten — insbesondere im Baubereich — sind viel höhere Transportkosten. Uber das Telefon sind nur wenige Teilnehmer in der ersten Gebührenzone erreichbar, es ist daher teurer. Größere Einkäufe, Facharztbesuche, Krankenbesuche im Krankenhaus erfordern hohen Zeit- und Fahrtaufwand.

Viele Schüler und Lehrlinge, die in der Stadt Schule oder Lehre absolvieren, müssen in Internaten wohnen, was hohe Kosten verursacht. Die Gemeinden haben viel höheren Aufwand für Sozialdienste. So haben sie beispielsweise einen höheren Anteil an behinderten Menschen zu versorgen, da nur Gesunde und Arbeitsfähige in die Stadt abwandern, Behinderte aber zurückbleiben müssen.

Man sagt: Die Städte vergeben große Aufträge an die Wirtschaft. Dagegen steht: Auch die Kleingemeinden vergeben Aufträge an die Wirtschaft — wenn sie die Mittel dazu haben. Und diese Aufträge haben den Vorteil, daß sie über das ganze Land verteilt sind. Zudem kann die effektive Verwendung in kleineren Gemeinden von der Bevölkerung und von Aufsichtsbehörden viel leichter kontrolliert werden.

Man sagt: In der Stadt braucht man Zuschüsse für öffentliche Verkehrsmittel. Dagegen steht: Das wäre am Land auch nötig. Da es aber nur wenige gibt, muß man als Landbewohner eben die viel höheren Kosten eines eigenen Kraftfahrzeuges tragen.

Man sagt: Am Land hat man weniger Umweltprobleme. Dagegen steht: Die heutigen Umweltprobleme treffen das Land ebenso (z. B. saurer Regen). Außerdem werden Industrie-Umwelt-Probleme auch von den Städten kaum gelöst, sondern müssen mit Bundes- und Ländermitteln bekämpft werden.

Zudem: Am Land wird vieles an Umweltschutz von der Bevölkerung selbst geleistet. Die Menschen müssen ebenso Zeit und Geld dafür einsetzen, es scheint bloß nicht im Budget auf.

Man sagt: Städte haben Regionalaufgaben zu erfüllen, wie z. B. Kulturstätten, Krankenhäuser und Schulen zu erhalten. Dagegen steht: Manches davon geht ohnehin laufend mehr in Bundes- und Landeskompetenz über.

Soweit durch solche Dienste wirkliche Mehrkosten entstehen, müssen sie berücksichtigt werden. Dann aber auch Verteilung der Gemeindeabgaben, die durch Einpendler aus dem Land der Stadt zuwachsen (Lohnsummensteuer). Man kann nicht die Einnahmen behalten und die Ausgaben verteilen.

Die Landgemeinden sind weithin der finanziellen Erschöpfung nahe. Kann das Land nicht leben, kommt es zu Abwanderung, mehr Arbeitslosigkeit, Verlust der Erholungslandschaft; letztlich zu einem Gesamtrückgang der Lebensqualität der ganzen Gesellschaft.

Wenn beim derzeitigen Verteilungskampf der Schwächere, Machtlosere unterliegt, fügen wir uns damit restlos in das weltweite Schema ein, indem die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden; das ist aber ein trauriger Ruhm und wird hier wie dort früher oder später bitter bezahlt werden müssen.

Der Autor ist Mitarbeiter der „Aktion Gerechter Finanzausgleich".

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung