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Minus mal Minus - kein Plus

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Einer der ersten und sicher der prominentesten, die ein Ergebnis einer soziologischen Analyse der deutschen Bundestagswahl vom 19. November veröffentlichten, war Bundeskanzler Willy Brandt. Noch in seiner Erklärung am Abend der Wahl dankte er ausdrücklich den katholischen Wählern, die sich diesmal stärker als sonst für seine Partei entschieden hatten. Damit sprach er eine jener Wählerwanderungen an, die mit der Veröffentlichung immer neuer Wahlanalysen immer deutlicher werden. Denn klarer als bei der Bundestagswahl von 1969, bei der nur die „Schiller-Wähler“ genauer zu erfassen, weitere soziologische und vor allem regionale Trends aber nur schwer festzustellen waren, zeigte die jüngste Wahl deutliche Entwicklungen im Verhalten der Wähler.

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Einer der ersten und sicher der prominentesten, die ein Ergebnis einer soziologischen Analyse der deutschen Bundestagswahl vom 19. November veröffentlichten, war Bundeskanzler Willy Brandt. Noch in seiner Erklärung am Abend der Wahl dankte er ausdrücklich den katholischen Wählern, die sich diesmal stärker als sonst für seine Partei entschieden hatten. Damit sprach er eine jener Wählerwanderungen an, die mit der Veröffentlichung immer neuer Wahlanalysen immer deutlicher werden. Denn klarer als bei der Bundestagswahl von 1969, bei der nur die „Schiller-Wähler“ genauer zu erfassen, weitere soziologische und vor allem regionale Trends aber nur schwer festzustellen waren, zeigte die jüngste Wahl deutliche Entwicklungen im Verhalten der Wähler.

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Bereits zum Schlagwort geworden ist das Nord-Süd-Gefälle, das darüber hinaus auch schon durch einen forcierteren Alleingang der CSU und eine heftige innerparteiliche Diskussion innerhalb der CDU zu konkreten politischen Auswirkungen geführt hat. Zwar hatte sich bereits vor der Wahl abgezeichnet, daß die Unionsparteien im Süden stärker sein und die Wahlen in Nordrhein-Westfalen entscheiden würden, doch hat niemand mit den starken Verlusten der CDU etwa in Schleswig-Holstein und mit dem Einbruch der SPD in bisher sichere CDU-Wählerschichten in Rheinland-Pfalz und im Saarland gerechnet. Ganz streng läßt sich das Nord-Süd-Gefälle freilich nicht feststellen. In Hamburg etwa sank sowohl der Stimmenanteil der CDU wie auch jener der SPD; wähnend in Hessen, einem, geographisch gesehen, typischen „Mittelland“, die CDU sogar Stimmen gewinnen konnte.

Dies deutet darauf hin, daß zwar das Nord-Süd-Gefälle Symptom einer Entwicklung im Wählerverhalten ist, keineswegs aber auch die Erklärungen für die Veränderungen liefert. Denn anders als in Österreich mit seiner vor allem durch wirtschaftliche Entwicklung geförderten klaren Trennung zwischen West-und Ostösterreich, besteht zwischen Nord- und Süddeutschland zwar ein in vielen „Preißn“- und „Bayern“-Witzen aufgegriffener Gegensatz in Mentalität und Dialekt, aber gibt es nur sehr beschränkt klare wirtschaftliche und soziale Unterschiede.

Am ehesten besteht ein Unterschied in der Konfession. Das katholische Schwergewicht im Süden und im Westen der Bundesrepublik bedeutete immer einen sicheren Stimmenpolster für die Unionsparteien. Gerade hier aber gelang der SPD ein Einbruch. Nach Feststellungen des Meinungsforschungsinstituts Inf ratest betrug der Zuwachs an katholischen SPD-Wählern rund vier Prozent, während der Zuwachs der protestantischen etwa gleich blieb. Laut Allensbacher Meinungsforschungsinstitut waren es sogar noch mehr Katholiken, die diesmal für die SPD votierten.

Damit hat sich für die SPD ihr Bemühen gerade um diese Wählerschicht bezahlt gemacht. Wenn auch leitende Kirchenmänner dm Wahlkampf trotz des Bemühens um Annäherung an die Kirche auf Seiten der SPD während der drei Regierungsjahre der sozial-liberalen Koalition kein Hehl aus ihrer Ablehnung der SPD gemacht hatten, war es trotzdem zu dieser Verschiebung gekommen. Dies mag darauf hindeuten, daß die Meinung der offiziellen Kirche heute weniger Beachtung findet als früher. Auch die klare Ablehnung der sozial-liberalen Pläne für eine Änderung des Abtreibungsparagraphen durch Bischöfe und Kardinäle bremste nicht den Zustrom der katholischen Wähler zur SPD. Es wird sich dabei gerade in dieser Frage zeigen, wie weit die SPD, die hier unter Justizminister Jahn nicht zuletzt aus taktischen Gründen einen Kompromiß angesteuert hatte, auch nach dem Wahlsieg diese Haltung beibehalten und die Fristenlösung ablehnen wird.

In der Veränderung des Wahlverhaltens katholischer Wähler mag sich aber ein weiteres Merkmal dieser Bundestagswahl niederschlagen, nämlich die Rolle der Jungwähler, die sich sicherlich in ihrer kirchlichen Gebundenheit deutlich von älteren Gruppen unterscheiden. Diese mehr als 4 Millionen Wähler hatten diesmal nicht nur alle Behauptungen widerlegt, daß sie wahlfaul seien, sondern auch, daß sie sich in ihrer Wahlentscheidung nur unwesentlich von älteren Wählern unterscheiden. Meinungsforschungsinstitute sprechen von 60 Prozent Jungwählerstimmen für die SPD und hohen Stimmanteilen für die FDP.

Ähnlich überraschend, wenn auch nicht so deutlich war die Entwicklung im Wahlverhalten der Mittelschicht und der Arbeiter. Noch 1969 rekrutierte sich der Simmenzuwachs der SPD vor allem aus der Schicht der sozialen Aufsteiger, denen die CDU etwas zu altväterlich und unmodern, und Schiller bei der SPD gemäßigte Modernität, gepaart mit Bewahrung des Fortschritts, zu versprechen schien. Diesmal hatte die SPD in diesen Schichten keine Zugewinne verzeichnen können. Daß es vielmehr die FDP war, die hier kräftig aufholte, läßt mehrere Schlüsse zu. Es zeigt, daß die „Schiller-Wähler“ zwar in ihren politischen Vorstellungen wahrscheinlich tatsächlich eine geschlossene Gruppe bilden, aber keineswegs an eine Person fixiert sind, wie es die CDU geglaubt hatte. Es zeigt aber auch, daß diese Wählergruppe des Mittelstandes, die in Zukunft sicher zunimmt, keinen dezidierten Linkskurs wünscht. Sie wollte eine sozial-liberale Regierung und keine allein sozialdemokratische geschweige denn sozialistische — allerdings diesmal zumindest auch keine christdemokratische.

Dagegen konnte die SPD bei einer Wählerschicht reüssieren, die zwar ihre Domäne ist, die für sie aber keine Reserven mehr zur Verfügung zu haben schien: Arbeiter und Ahgestellte der unteren Einkommensgruppen. Nordrhein-Westfalen bewies dies ganz besonders deutlich, wo in den Wahlkreisen des „Kohlenpotts“ die CDU-Verluste besonders hoch waren. Die extrem hohe Wahlbeteiligung dieser Bundestagswahl schlug hier voll und ganz für die Sozialdemokraten durch, während die CDU nichts mehr zu mobilisieren hatte. Eng mit der Zunahme der SPD-Stimmen in reinen Industriegebieten hängt — so paradox es klingt — die gleiche Entwicklung in ländlichen Kreisen zusammen, in denen ebenfalls der SPD Gewinne gelangen. Hier machten sich offenbar der Rückgang der Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen ebenso bemerkbar wie die Tatsache, daß auch Arbeiter und Angestellte in verstärktem Maße in bisher rein ländlichen Gebieten wohnen.

Unorthodox verhielt sich den Wahlanalysen zufolge auch eine bisher als CDU-freundlich geltende Wählergruppe: die Frauen. Sie entschieden sich diesmal in unerwartet hohem Maße für die SPD. Neben den auch hier zu beachtenden sozialen Wandlungen — Berufstätigkeit, wachsende Bildung — war in diesem Fall sicher die Person des Bundeskanzlers für diesen Trend verantwortlich. Worüber sich die SPD zu Zeiten des „schönen“ Kanzlers Kiesinger lustig gemacht hatte, nämlich über den gezielten Einsatz dieses Mannes auf die Wählerinnen, das betrieb sie diesmal mindestens ebenso stark. Die Werbespots im Fernsehen waren auf „weiche Welle“ getrimmt, wenn Willy Brandt in ihnen vorkam. Er wurde vornehmlich im Kreis von Frauen, an der Seite seiner Frau Ruth sowie bei Interviews mit einer Journalistin gezeigt.

Gilt hier die Tatsache, daß es sich um eine Kanzlerwahl gehandelt hat, so zeigen doch die anderen oben angeführten Merkmale des Ergebnisses der Bundestagswahl, daß es zu einfach wäre, den Erfolg der Koalition nur auf die Ausstrahlung zurückzuführen, die Willy Brandt gegenwärtig in der Bundesrepublik und darüber hinaus im internationalen Rahmen besitzt. Denn weder erliegen die Norddeutschen leichter der Faszination eines Willy Brandt, noch dürfte dies für eine der anderen wahlentscheidenden Gruppen gelten.

Nur Willy Brandt für das Wahlergebnis verantwortlich zu machen, wäre ebenso falsch wie allein Rainer Barzel die Niederlage seiner Partei in die Schuhe zu schieben. Zwar haben im Fall dieses nun zum drittenmal beim Griff nach der Kanzlerwürde gescheiterten Mannes die Demoskopen ein verheerendes Popularitätsbild aufgezeigt, das vor der Wahl nur noch düsterer, statt heller geworden war. Doch die demoskopischen Untersuchungen, wie auch die interne Manöverkritik der Unionsparteien haben gezeigt, daß sich die Oppositionspolitik der vergangenen drei Jahre, die Art des Wahlkampfes, seineThemenwahl, wie auch der gesamte Habitus der Partei nachteilig für sie -bei der Wahl ausgewirkt haben. So schlug etwa der Versuch, Barzels negatives Image durch die Herausstellung einer „Mannschaft“ auszugleichen, ziemlich fehl. Erstens war die Ausgleichsfunktion des Teams so überzogen, daß sie jeder Wähler durchschauen und sich von ihr eher erneut irritiert fühlen mußte. Zweitens wirkten viele Männer des Teams nicht sehr überzeugend und das entsprechende Wahlplakat, auf dem Barzel, Schröder, Strauß und Katzer beziehungslos und mit eher abweisenden Gesichtern nebeneinander standen, schien dies geradezu dem Wähler signalisieren zu wollen. Die CDU/ CSU hatte sich bei ihrer Rechnung, daß in der Politik Minus mal Minus doch ein Plus ergeben könnte, gründlich verrechnet.

Eine Personaldebatte allein wird das Problem der CDU nicht lösen — auch das zeigt die Wahlanalyse. Die CDU schien vielen Wählern zu wenig wirklich Eigenständiges gegenüber SPD und FDP zu bieten. Ihr Image als „Interessengemeinschaft zum Sturz der sozial-liberalen Koalition“, das sie sich in drei Oppositionsjahren angeeignet hatte, wurde sie nicht los. Sie schien im Wahlkampf auf Negation fixiert, überzog ihre Propaganda und wirkte dadurch unglaubwürdig. Die CDU/CSU und vor allem Helfer aus Wirtschaftskreisen begnügten sich nicht, Gefahrenmomente in der Wirtschaftsentwickiung aufzuzeigen, sondern sie kündigten gleich den Zusammenbruch der Wirtschaft an. Sie schössen sich auf das Thema „Innere Sicherheit“ ein, das nach der Erledigung des Falles „Baader-Meinhof“ trotz des Terrorismus-Zwischenfalls von München eigentlich kein Thema mehr war. Im Fall der Ostverträge aber, in dem eine klare Aussage der Unionsparteien notwendig gewesen wäre, offenbarten diese ihre in den letzten Jahren zunehmende Programmlosigkeit, versuchten es mit Taktieren und bekamen dafür — der rapide Popularitätsverlust von CDU und CSU nach der Paraphierung des Grundvertrags beweist es, von den Wählern die kalte Schulter gezeigt.

Auf diesem Gebiet lag noch eine der Überraschungen dieser Wahl, die zugleich neben anderem vor einer zu simplen Übertragung ihrer Ergebnisse auf andere Länder warnen läßt. Auch der Grundvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR wurde von den Wählern, obgleich er die Anerkennung Ost-Berlins durch Bonn bringt, auf die Habenseite des Regierungskontos gebucht. Hier hatte die SPD/FDP-Koalition die Möglichkeit, durch ein perfektes Timing der CDU/CSU ein Wahlkampfthema aufzuzwingen, dem sie sich zunächst entziehen wollte, sich aber schließlich stellte — und das, wie in der Ost- und Deutschlandpolitik in letzter Zeit immer, reichlich unglücklich.

Für jede der vier im Bundestag vertretenen Parteien muß die Analyse der Wahlergebnisse zahlreiche Konsequenzen und Anstrengungen nach sich ziehen. Die SPD sieht, daß sie in Wählerschichten vordringen kann, die ihr bis vor kurzem noch völlig verschlossen schienen. Dies war ihr allerdings nur durch eine vorsichtige, auf extreme Maßnahmen verzichtende Politik gelungen. Radikale Politik würde diesen Wählertrend zur SPD nicht nur stoppen, sondern, SPD-Wähler verstärkt zur FDP oder sogar wieder zurück' zur CDU treiben. Die FDP konnte erkennen,“ daß sie in der Mittelschicht auf Bundesebene Wähler gewinnen kann. (Auf Landes- und Kommunalebene wird sie sich weiter schwertun.) Dies wird sie zu einer schärferen Akzentuierung ihrer Politik gegenüber dem großen Koalitionspartner veranlassen. Eine solche fortschrittliche Politik für den Mittelstand könnte ihr auch jenes Profil geben, das es ihr später ermöglicht, wieder mit der CDU/CSU zu koalieren, ohne daß es wie ein „Umfaller“ aussieht. . '

Damit die Unionsparteien allerdings wieder mit der FDP ein Regierungsbündnis eingehen könnten, müßten sie sich ziemlich wandeln.

Dies wird unter anderem nur möglich sein, wenn es den Unionsparteien gelingt, sich von dem Image, Interessenvertretungen starker

Wirtschaftsgruppen zu sein, lösen können. Falsch wäre es wohl auch, aus den Gewinnen der CDU in Hessen und vor allem aus der Behauptung der CSU in Bayern (vgl. auch Seite 7) den Schluß zu ziehen, daß die Politik der dortigen Unionsspitzen Strauß und Dregger die Linie für das gesamte Bundesgebiet aufzeigt, der die Union nur folgen muß, um 1976 zu gewinnen. Gerade die Verbindung der CDU vor allem mit Strauß hat ihr in den entscheidenden Gebieten, in Nordrhein-Westfalen und in Norddeutschland, erheblich geschadet. Eher muß sich die Union von diesem betont rechten Image lösen und sich wahrscheinlich sogar von manchem distanzieren, der ihr noch in diesem Wahlkampf kräftige Schützenhilfe geleistet hat.

Dies betrifft ebenso manche Wirtschaftskreise, die mit teilweise unqualifizierten Anzeigen der Union mehr geschadet als genützt haben, wie auch für Verleger wie Bauer und Springer. Denn weder die massive Werbung in den Zeitungen des Verlegers von Busengazetten noch in Axel Cäsar Springers Blättern hatte für die Unionsparteien Erfolg. Eher ist es vielleicht eine der interessantesten Erkenntnisse des zurückliegenden Wahlkampfes, daß die Beeinflussung der Wähler dort, wo in den Medien geworben oder die Realität verzerrt wurde, am geringsten war.

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