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Mit Behinderten leben

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Bei unserem letzten Besuch in Vene­dig trafen wir eine Gruppe von zwanzig italienischen Kindern mit ihrem Be­treuer, einem jungen Priester aus Um­brien. Unter den sorgenfreien, erlebnis­hungrigen Touristen nahm er sich selt­sam aus.

Er entstammt, wie wir bald erfuhren, einer wohlhabenden Adelsfamilie, lehnte aber alle Berufungen in ehren­volle Ämter ab und opferte sie gern sei­nen Schutzbefohlenen. Eben diesen zwanzig Kindern. Keines von ihnen hat je sprechen und hören können, alle sind taubstumm.

Wir verlebten viele Stunden mitein­ander und unser anfängliches Bedauern schwand bald. Diese Kinder wurden ge­liebt und liebten aus vollem Herzen wieder. Sie sind keine Kranken, die auf Genesung hoffen können.

Solange sie beieinander und in der Gemeinschaft mit ihrem großen prie­sterlichen Freund bleiben, wird ihnen auch ihre Behinderung kaum zum Be­wußtsein gebracht. Keiner hat dem an­deren etwas voraus oder wird von die­sem ins „aus“ verwiesen.

Wieder einmal wurde überdeutlich, daß die Maßstäbe Nichtbehinderter für Behinderte schwerer zu ertragen sind, als ihre eigentliche Behinderung. An der Reaktion der Menschen in Venedig war die ganze Skala dessen, was Nicht­behinderte beim Anblick Behinderter empfinden, ablesbar - vom Mitleid bis zum Entsetzen. Auf einen Nenner ge­bracht heißen die Empfindungen: Ihr stört unsere Kreise, gehört nicht zu uns, macht uns Mühe.

Wir ertragen den Anblick der Krankheit nicht und schicken unsere Kranken in die Krankenhäuser, bekla­gen aber lautstark deren mangelnde

Menschlichkeit. Wir ertragen nur schwer den Anblick Behinderter und sind dann hilfloser als die eigentlich Hilflosen.

Das Jahr der Behinderten, das jetzt anbricht, sollte nicht nur den A nlaß abgeben, größere und schönere Heime zu bauen, soziologische Studien in Auftrag zu geben. Esgéht vielmehr um ein Umdenken: Wir sollten unsere Einstellung zum Sinn und Stellenwert des Leidens überprüfen.

So wenig Krankheit und Behinde­rung sonst miteinander gemeinsam ha­ben: Unsere sehr ähnliche Reaktion auf beide macht sie zu Schicksalsgefährten und vereint die verschiedenen.

Das Jahr 1981 soll in der ganzen Welt als „Jahr der Behinderten“ be­gangen werden. Es ist gewiß nicht in Ordnung, daß wir solcher Erinnerung überhaupt bedürfen. Wir wollen ebenso wenig krank, wie behindert sein, das ist menschlich und verständlich.

Wir wollen aber auch ebenso wenig in Krankheit und Behinderung Gottes Willen sehen. Das offenbart unser Glaubensdefizit. Es hindert uns nicht nur an tätiger, vernünftiger Nächsten­liebe, sondern ist ein stillschweigender Aufstand gegen die Art, wie Gott liebt.

Viele Christen haben in den letzten Jahrzehnten für ihren Glauben ent­deckt, was früheren Generationen ver­borgen oder tabu war und was sie daher sich selbst überließen. Wir lernten, daß es ein Recht des Widerstands gegen Staatsgewalt gibt. Wir erkannten die unheilvolle Verkoppelung von Mission und Kolonialismus. Wir überwanden die Almosengesinnung und gewannen statt ihrer soziale Verantwortung.

Gleichzeitig aber wurden wir leider zunehmend hilfloser im Umgang mit

Kranken und Behinderten. Gewiß, wir batten Krankenhäuser und Rehabilita­tionszentren, die an Perfektion kaum mehr zu übertreffen sind. Unsere Fä­higkeit aber, Kranke und Behinderte als Weggenossen anzunehmen, ver­kümmerte immer mehr. Inmitten über­bordender Sozialleistungen werden wir selbst geradezu asozial.

Man kann nicht an alles zugleich denken, sicherlich. Auch gelebter Glaube braucht immer wieder neue Schwerpunkte, aber er darf die alten darüber nicht vergessen. Es darf uns einfach nicht aus dem Blick kommen, daß seit Beginn der Christenheit den Mühseligen und Beladenen, den Trost­bedürftigen und Verzweifelnden, dem geknickten Rohr und dem glimmen­den Docht - seitenlang könnten wir fortfahren - die frohe Botschaft gilt.

Wir sind zwar fasziniert von den Er­folgen der Medizin, gleichzeitig aber immer weniger bereit, in gesundheitli­chen Störungen anderes als Pannen zu sehen. Lebenslange Schäden gar, wie sie Behinderten meist eigen sind, kön­nen wir mit unserem ängstlich geworde­nen Glauben nur noch mühsam zusam­menbringen. Bevor wir womöglich selbst Kranke oder Behinderte werden, ist unsere Seele schon verkümmert.

Sie hatte einseitig auf die Hilfe durch Menschen gesetzt. Nun hat sie keine Kraft mehr, den zum Helfer zu rufen, der Zuversicht und Stärke in großen

Nöten ist und dessen Liebe am Werk bleibt, auch wenn wir durch angstvolle Stunden gehen.

Unser Beitrag zum Jahr der Behin­derten kann also nicht in erster Linie im Vorweisen dessen bestehen, was Kir­chen, diakonische Werke und zahllose Vereine zur Bewahrung der notwendi­gen Identität von Glaube und Liebe in die Tat umsetzen. Sie können sich ja se­hen lassen, diese Menge Fluchtburgen für Kranke und Behinderte, welche die Christenheit ihren leidenden Gliedern errichtete! Sie waren und sind Zeug­nisse tätigen Glaubens, dessen Glaub­würdigkeit darin besteht, daß er zur Liebe frei macht.

Sind wir aber, die Nichtbehinderten, wir, die Nicht- oder Nochnichtkran- ken, für uns selbst und vor allem für den

Umgang mit Behinderten dabei wirk­lich klüger geworden? Danach aber fragt das ärgerliche Thema dieses Jah­res, danach fragen auch diese Worte.

Die meisten von uns müssen nicht mit der Behinderung, sondern mit Be­hinderten leben. Was wir aber hier ver­säumen, trotz aller Betriebsamkeit, die wir für Kranke und Behinderte aufbrin­gen, bleiben wir nicht zuletzt auch uns selbst schuldig. Denn morgen schon kann es an uns sein. Morgen schon kann sich erweisen, daß alle sozialen Netze, die wir geknüpft haben, den Sturz in die Tiefe nicht aufhalten.

Dann spätestens, wenn Krankheit und Behinderung über unsere eigene Schwelle treten sollten, werden wir unausweichlich gefragt, wer der Herr im Hause unseres Lebens ist.

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