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Mit dem Vehikel von 1945?
Die ideologische Aufrüstung ist in Österreich in vollem Gang. Materien, deren Sachbezogenheit noch vor wenigen Jahren jeder Ideologisierung trotzten, werden nun zu gesellschaftspolitischen Entscheidungsfragen. Pragmatiker während der Koalition, Taktiker während der Minderheitsregierung werden nun plötzlich geradezu vom Fieber eines Grundsatzfanatismus geschüttelt. Strafrecht, Bodenbeschaffung, Assanierung, Gesundheitspolitik, Steuerreform, Schulreform sind nur der sichtbare Teil eines Eisberges, der die großen Lager trennt.
Die ideologische Aufrüstung ist in Österreich in vollem Gang. Materien, deren Sachbezogenheit noch vor wenigen Jahren jeder Ideologisierung trotzten, werden nun zu gesellschaftspolitischen Entscheidungsfragen. Pragmatiker während der Koalition, Taktiker während der Minderheitsregierung werden nun plötzlich geradezu vom Fieber eines Grundsatzfanatismus geschüttelt. Strafrecht, Bodenbeschaffung, Assanierung, Gesundheitspolitik, Steuerreform, Schulreform sind nur der sichtbare Teil eines Eisberges, der die großen Lager trennt.
Man geht nicht fehl, dem Prozeß eine gewisse Künstlichkeit zu attestieren; denn die Gründe liegen offen auf der Hand:
• Die SPÖ nimmt zum erstenmal in Österreich eine ihr nicht historisch vorgegebene Rolle ein — sie trägt die Gesamtverantwortung in einer Alleinregierung. Damit zwingt sich ihren realutopischen Programmvorstellungen der Sachzwang des runden Tisches am Ballhausplatz auf. Zwischen Regierungspragmatismus einerseits, dem Wunsch nach Verfestigung bei den Wählerschichten vom 10. Oktober 1971 anderseits, zwischen unruhigen Jusos und auf die Erfüllung eines hundertjährigen austromarxistischen Traumes hoffenden Kadern soll offenbar angestauter Druck entladen werden. Was freilich die SPÖ während ihrer bisherigen Programmdiskussion produziert, waren kluge Unverbindlichkei-ten einer ideologisch versierten Intelligentsia — und noch nicht viel mehr.
• Anders in der ÖVP. Hier handelt es sich bisher doch um etwas mehr als um eine Beschäftigungstherapie für unruhige Ungeduldige, die man von der Kritik an den Anlaufschwierigkeiten der Opposition ablenken wollte. Tatsächlich lag so etwas im Kern der Überlegungen der ÖVP-Führung: nach den neuen Männern und der unwiderruflich neuen Rolle sollte auch ein neues Programm kommen; Gelegenheit zum sogenannten Dampfablassen, Einbindung unruhiger Nörgler — vor allem aber „Profilierung“ und „In-tellektualisierung“: summa summa-rum eine Imagekosmetik der ersten Stunden auf den harten Bänken der Opposition.
Doch das erste Halbjahr der Alleinregierung des Dr. Kreisky und das erste Halbjahr der ÖVP-Pro-grammdiskussion verläuft ein wenig anders, als man sich das am grünen Tisch vorgestellt hat. Tatsächlich zeigt sich noch nicht allzu viel spektakuläres vom Geist einer neuen Volkspartei, den nicht nur die Freunde dieser Partei wünschen, sondern auch jeder staatsbewußte Österreicher schon im Interesse einer wirksamen kontrollierenden Kraft fordern muß. Denn in der Volkspartei hat sich an der Methode zur Bewältigung anstehender Probleme nicht viel geändert. In der Volkspartei herrscht nach wie vor der unselige Geist partikularen Interessendenkens, und in den Bünden sitzen durchweg die gleichen Männer, die dem sacro egotsmo Funktion und Mandat verdanken — und obendrein integralen gemeinsamen Gesinnungsgleichklang nicht zeigen — kurzum: die die Volkspartei nur als Summe von Teilen sehen und nach dem Prinzip des „Do ut des“ auch in der Opposition pragmatische Detailpolitik betreiben.
Und das ist im Kern das eigentliche Problem der Programmdiskussion innerhalb der ÖVP: kann es heute überhaupt noch eine Gesinnungsethik in einer politischen Gruppierung geben, die die gegenwärtige Struktur der ÖVP aufweist? Oder, wie es ein Geschichtszeuge innerhalb der Volkspartei, Heinrich Drimmel, formuliert: „Kann man mit dem Vehikel ex 1945 das neue Auto 1972 betreiben?“
Man wird nicht können. Tatsächlich kann man nicht als neuen „Motor“ das Grundsatzprogramm beschließen, gleichzeitig aber „Fahrgestell“ und „Übertragung“ — näm-' lieh das Statut und die Organisation dieser Partei — unverändert lassen. Ein Vehikel solcher Konstruktion kann weder besser fahren noch beim Betrachter guten Eindruck hinterlassen.
Konkret: der Beschluß eines neuen Programmes ist nur dann wirksam und macht die Partei nur dann glaubwürdig, wenn eine Änderung des Parteistatuts gleichzeitig erfolgt. Derzeit wird — plebiszitär, wie es so schön heißt — das neue Grundsatzprogramm auf „breiter Ebene“ erstellt; im Statutenausschuß der ÖVP aber wird höchst geheim verhandelt. Das mag zur klugen Taktik gehören: am Ende der Beratungen aber wird die Volkspartei daran gemessen werden, wie ihre neue Struktur aussieht.
Dabei hat die Mehrheit der Funktionäre — quasi plebiszitär — schon einmal vorentschieden: als nämlich ein überbündischer und großangelegter Mitarbeiterkongreß in der Stadthalle im letzten Jahr den Vorrang der Gesamtpartei vor den Bünden bei der Kandidatenaufstellung, die Finanzhoheit der Gesamtpartei und ein Pressekonzept abseits bündischer Pressepartikularismen forderte. Die Führung der ÖVP wird also ihren Funktionären irgendwann Rechenschaft ablegen müssen, wie es um die Realisierung dieser Forderungen steht.
Noch einmal sei hier Heinrich Drimmel zitiert, der kürzlich anläßlich einer Diskussion im (ÖAAB-nahen) Kummer-Institut zusammen mit Anton Burghardt als historischer Zeuge belegte, daß 1945 die Bünde eine „geschichtliche Zufälligkeit“ darstellten und nicht etwa den harten Kern der neugegründeten Partei. Tatsächlich hat auch keine bürgerliche Schwesterpartei der ÖVP jene zementiert-versäulte dreifaltige Horizontalorganisation wie die ÖVP.
Am Landesparteitag der Vorarlberger ÖVP haben vor wenigen Tagen stets jene Redner den meisten Applaus erhalten, die den Vorrang der Gesamtpartei vor den Bünden betonten. Und Vorarlberg ist offenbar ein Außenposten Österreichs mit scharfen Fernrohren — Entwicklungen pflegen sich zwischen Rhein und Arlberg früher als irgendwo sonst anzuzeigen.
Man sollte das in Wien registrieren.
Und vielleicht auch den Mut finden, mit Hilfe und Kraft von hun-derttausenden Mitgliedern und fast zwei Millionen Wählern von der Parteispitze her aktiv zu werden. Auch wenn dies Vorgestrige in den Bünden nicht verstehen sollten — oder sogar (wie man hört) mit Drohungen bei der Hand sind.
Wie gesagt: ein neuer Motor ist zu wenig. Drei Fahrer am Lenkrad und das alte Fahrgestell — das Vehikel müßte steckenbleiben.
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