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Mit der „SS-20“ und „Pershing-II“ leben?

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Trügen am Ende die Zeichen doch, die auf ein entkrampf- teres Ost-West-Verhältnis in naher Zukunft haben schließen lassen? Der Besuch des Bonner Kanzlers Helmut Kohl in Moskau kann auf diese Frage keine Antwort geben. Große Dinge waren ohnedies nicht zu erwarten gewesen, man wollte einander ja sowieso nur abtasten.

Auch wenn Moskau nach wie vor hoffen dürfte, die NATO- Nachrüstung mit Hilfe der Friedensbewegungen in den westeuropäischen Ländern verhindern zu können, müßte der Kreml- Führung durch das konsequente Auftreten Kohls ein weiteres Mal klar geworden sein:

Die jetzige Bonner Regierung meint es mit der Aufstellung von Pershing-II-Raketen und

Marschflugkörpern bitter ernst, sollte bei den Genfer Mittel- strecken-Raketen-Verhandlun- gen bis zum Herbst keine Einigung erzielt worden sein. Dasselbe gilt für die wiedergewählte konservative Regierung in Großbritannien, dasselbe gilt für die Amerikaner. Und ohne Wenn und Aber haben sich auch Frankreichs regierende Sozialisten in diese westliche Phalanx eingegliedert.

Insofern ist die westliche Politik für die Sowjets berechenbarer geworden. Nur, ob sie daraus auch die richtigen Konsequenzen ziehen?

Aus den Erklärungen sowjetischer Führer anläßlich des Kohl-Besuches lassen sich jedenfalls nicht viele Anzeichen für einen Kurswechsel heraus filtern. Die üblichen Drohungen mit Gegenmaßnahmen im Falle der NATO-Nachrüstung finden sich da ebenso wie die Feststellung, daß es für eine Übereinkunft in Genf noch nicht zu spät sei.

Was ja auch tatsächlich stimmt. Kohl tat denn auch gut daran, daß er in Moskau den Finger auf den wunden Punkt legte, in dem er seine Gesprächspartner auf das „schwerwiegende Hindernis in den Verhandlungen“ aufmerksam machte: „Ihr Ziel, die westliche Stationierung zu verhindern und ihre Monopolstellung im Mittelstreckenbereich zu erhalten, wird dem Prinzip der Gleichheit nicht gerecht.“

Das sowjetische Beharren auf einem militärischen Kräftegleichgewicht wird in allen westlichen Hauptstädten akzeptiert, wenn in Washington einige besonders harte „Falken“ sich mit dieser Tatsache auch noch nicht ganz abfinden wollen. Doch die verbalen Querschüsse haben den Grundkonsens nicht zerstört.

Womit sich die westliche Welt aber nicht abfinden will und nicht abfinden kann, ist das sowjetische Streben nach Uberle-1 genheit. Selbst wenn man Ver ständnis für die sowjetischen Einkreisungsängste und den daraus resultierenden Inferiori- täts- und Sicherheitskomplex aufbringt, ist es einfach unmöglich, zu akzeptieren, daß die UdSSR militärisch stärker wird als alle anderen Groß- und Mittelmächte der Welt zusammen.

Genau darauf aber scheint die Hochrüstung der Sowjetunion im konventionellen wie im atomaren Bereich hinauszulaufen. Oder wozu hat Moskau allein gegen europäische Ziele 250 SS-20-Raketen gerichtet, für die es nicht einmal genügend lohnende Ziele gibt?

Bewegung wird es bei den Genfer Verhandlungen wohl erst geben, wenn die Sowjetunion das westliche Prinzip des militärischen Gleichgewichts anerkennt. Und da mag die Kreml-Propaganda noch so schrill tönen und westliche Friedenskämpfer brav in ihren Chor einstimmen: Es stimmt nicht, daß durch die Pershing-II-Ra- kete das Gleichgewicht zerstört wird, es stimmt auch nicht, daß diese Rakete eine Erstschlagswaffe ist.

So wie es nach Kohls Besuch in Moskau aussieht, sind die Fronten zwischen Ost und West klar abgesteckt. Zwar haben die

Warschau-Pakt-Führer zuletzt bei einem Treffen in Moskau die französischen und britischen Atomraketen in einer Erklärung nicht einmal mehr erwähnt, Ministerpräsident Ti- chonow aber wiederum hat bei einer Tischrede anläßlich des Kohl-Besuches Zugeständnisse von sowjetischer Seite bei den Genfer Verhandlungen ausgeschlossen.

Die Signale sind jedenfalls widersprüchlich, hat doch ein hoher sowjetischer Generalstabsoffizier einer amerikanischen Kongreß-Delegation gegenüber angedeutet, Moskau wäre zu einem Kompromiß über den im vergangenen Sommer vom amerikanischen und sowjetischen Chefdelegierten in Genf bei einem Waldspaziergang erörterten Vorschlag bereit. Der sieht vor, die Anzahl der sowjetischen SS-20-Raketen auf 75 zu redu zieren und als Gegenleistung dieselbe Zahl amerikanischer Abschußgeräte für Marschflugkörper zuzulassen. Auf die Per- shing-II müßte die NATO demnach ganz verzichten.

Die Fußangel dabei: Würde Moskau die zu reduzierenden SS-20-Raketen tatsächlich verschrotten oder nur hinter den Ural verlegen und damit China und Japan verstärkt bedrohen?

Alles scheint offen. Doch bleibt die Sowjetunion hart, werden die NATO-Länder den Doppelbeschluß allem Anschein nach eisern durchziehen und stationieren — selbst wenn es in der Bundesrepublik einen „heißen Herbst“ geben wird. Deshalb: Man muß sich wohl schon jetzt in Europa darauf einrichten, mit der SS-20 und der Per- shing-II zu leben

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