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Mit gesellschaftlichen Konflikten leben lernen

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Es war weder eine typische Kongreßstadt noch eigentlich ein Kongreß - und dennoch eine Tagung, die breiteres Interesse verdient. Lublin - bis zürn Ersten Weltkrieg eine der westlichsten Städte des zaristischen Rußland - hat seither eine sehr wechselvolle Geschichte erlebt. Die Stadt war immer ein Ort der Begegnung der Religionen und Nationen. Sie ist heute mit der einzigen katholischen Universität Osteuropas das wohl bedeutendste geistige Zentrum der polnischen Kirche.

Nicht nur im Bereich der kirchlichen Kunst spürt man den Einfluß der Ostkirche. Dagegen erinnern an die einstige bedeutende Position des Judentums nur mehr einzelne Elemente an den Fassaden der schönen, heute weithin verfallenen Renaissance-Häuser der Altstadt. Das Judentum Lvjblins hat in dem vor der Stadt liegenden

Konzentrationslager Majdanek ein grauenvolles Ende erfahren.

Ort der nationalen Begegnung ist Lu-blin auch heute noch: So kommen täglich Reisegruppen aus der Sowjetunion (die Grenze ist kaum 100 Kilometer entfernt); vor allem aber kommen aus aller Welt Besucher zur Katholischen Universität. So gesehen, war auch das Zusammentreffen der österreichischen und polnischen Soziologen, das über Initiative der österreichischen Professoren Erich Bodzenta und Klaus Zapo-tocky sowie des polnischen Professors Joachim Kondziela zustandegekommen ist und an eine Tradition ähnlicher Treffen angeknüpft hat, eine Gelegenheit, auch Tür Sozialwissenschafter aus anderen Ländern, nach Lublin zu kommen.

Die umfassende Problematik der Konflikte und Widersprüche in der industriellen Gesellschaft stellt eine Herausforderung an westliche wie östliche politische Systeme dar, an marktwirtschaftliche wie planwirtschaftliche Wirtschaftssysteme. Uberall gibt es Antonomien zwischen divergierenden Lebensvollzugsbereichen, ein nicht nur von den Soziologen festgestelltes Auseinanderklaffen der Arbeits- und Freizeitatmosphäre.

Das moderne Leben zerfällt „in eine Reihe unterschiedlicher und autonomer Rollen, deren jede einem anderen Lebensbereich, einer anderen gesellschaftlichen Gruppe zugeordnet ist*' (J. Kondziela). Es ist gerade ein fundamentales Anliegen des katholischen Sozialdenkens, hier zu mehr Ubereinstimmung, zu einer ganzheitlichen Sicht der menschlichen Existenz zu kommen.

Ein Ergebnis der Lubliner Gespräche war, daß nicht nur in jeder Gesellschaft latente Konflikte bestehen, die in ihren Ursachen und Auswirkungen genauer untersucht werden müssen, sondern daß Konfliktlösungen immer von der jeweiligen Situation und ihrer Interpretation abhängen, daß die Konflikte nicht vermieden, nicht umgangen werden sollen, sondern daß wir mit Konflikten leben lernen müssen (K. Zapo-tocky).

Die immer weiter fortschreitende Arbeitsteilung schafft neue Entfremdungsformen: längst ist die Hoffnung des Marxismus illusorisch geworden, daß in einer Planwirtschaft diese Entfremdung aufgehoben werden kann. Immer geht es darum, die betroffenen Menschen möglichst in das Gesamtgeschehen einzubeziehen, ihnen Mitwirkungsmöglichkeiten sicherzustellen und ihr Interesse zu wecken.

österreichische und deutsche Erfahrungen sprechen dafür, daß etwa in der Raumplanung mit einer Mitwirkung der betroffenen Bevölkerungsschichten und -gruppen die Chance einer sowohl effektiveren als auch menschenwürdigeren Planung gegeben ist, daß die Planung, so gesehen, auch eine Herausforderung darstellt, sich nicht Sachzwän-gen zu unterwerfen, sondern sie zum Instrument bewußter Gestaltung zu machen (G. Lentner).

Dies gilt vor allem für jene Bereiche, wo die Lebensqualität so sehr betroffen ist, wie beim Umweltschutz; hier hat das Mitglied der polnischen Akademie der Wissenschaften Th. Wierzbicki auf eindrucksvolle Zusammenhänge hingewiesen. Uber den ökonomischen Bereich hinaus geht es gerade in der Sozialpolitik um eine Uberwindung der Fremdbestimmtheit; hier hat im Zusammenhang mit dem Altenproblem Margit Scholta bedeutsame Möglichkeiten aufgezeigt.

Das Symposium in Lublin hat darüber hinaus deutlich gemacht, daß es zur wichtigsten Aufgabe der Soziologie gehört, die einzelnen Arbeits- und Freizeitbereiche gründlich zu erforschen und Modelle für sinnvolle Lösungen aufzuzeigen.

Jedes Land hat für die großen und kleinen Lösungen Modelle anzubieten, Österreich nicht nur die auch in Lublin diskutierte Sozialpartnerschaft. Polen wieder hat mit seinem Modell den Versuch eines sozio-kulturellen Pluralismus in einem sozialistischen System unternommen (W. Piwowarski).

In Polen wird man daran erinnert, daß nicht nur Papst Johannes Paul II. dort Professor war, sondern auch der derzeitige Primas, Kardinal Stefan Wyszynski. In vielen Wissenschaftsbereichen, so insbesondere in der Soziologie, haben katholische Persönlichkeiten eine hervorragende Position.

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