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Mit heiklen Fragen soll man den Kirchenführer nicht belästigen

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Patriarch Pavle am Rande der „Pro Oriente”-Feier im Gespräch mit der FURCHE: keine Wahlempfehlung für den 19. Dezember.

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Patriarch Pavle am Rande der „Pro Oriente”-Feier im Gespräch mit der FURCHE: keine Wahlempfehlung für den 19. Dezember.

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Gegenüber der FURCHE wollte sich Serbiens Patriarch zur politischen Situation in seinem Land nicht direkt äußern. Zur Haltung der serbisch-orthodoxen Kirche angesichts der für 19. Dezember vorgesehenen vorzeitigen Parlamentswahlen in Serbien meinte er: „Unsere Kirche sagt nie ihren Gläubigen: Wählt die eine oder die andere Partei. Die Kirche kann sich nur dann aussprechen, wenn es das Gewissen der Gläubigen betrifft. Wenn diese wirklich glauben, können sie nicht jene wählen, die materialistische Ansichten in ihrem Programm vertreten; diese Ansichten schließen ja den Glauben aus. Wer wirklich glaubt, kann nicht darauf vertrauen, daß eine Partei, die materialistisch gesinnt ist, ihnen allen wirkliche Freiheit, die Grundlage der Demokratie ist, geben wird.”

Den „Konflikt in Bosnien” -meint der Patriarch - könne man nur auf dem Weg des Evangeliums lösen. Man sollte aber nicht nur „evangelisch sprechen”, man müsse „mit dieser Lehre auch leben”. Wenn man etwas sage und etwas ganz anderes mache, wenn man einen Maßstab für das eigene und einen gegenteiligen für das andere Volk anwende, „dann verliert man seine Seele”.

Im Ziel,„zum Frieden auf dem Balkan beizutragen, hat sich Patriarch Pavle bereits viermal mit dem kroatischen Kardinal Franjo Kuharic getroffen. Die beiden hohen Geistlichen haben danach jeweils an ihre Gläubigen, an ihre Völker und die Regierungen appelliert. Von der Serbischen Synode, das ist die Oberbehörde der serbischorthodoxen Kirche, wurde in dieser Angelegenheit auch ein Ausschuß gegrün- • det, der sich mit einem parallelen katholischen Ausschuß regelmäßig treffen soll. Pavle: „Nicht nur, um über die Probleme zu sprechen, sondern auch um Frieden, den wir alle brauchen, zu ermöglichen.”

Als peinlich für den serbischen Patriarchen hat sich die Frage nach der Au-tokephalie (Selbständigkeit) der mazedonisch-orthodoxen und nach jener der montenegrinisch-orthodoxen Kirche herausgestellt. Die-Montenegriner wollen auch kirchlich von Serbien unabhängige Wege gehen. Bei dieser Frage verwies ein den Patriarchen begleitender Geistlicher auf die Müdigkeit „Seiner Heiligkeit” - wie Pavle offiziell angesprochen wird. Er sollte nicht menr mit Fragen belästigt werden. Pavle zur Autokephalie-Frage kurz und bündig: „Es gibt einen Christus, eine Lehre und es sollte auch eine Kirche sein.”

Der serbisch-orthodoxe Metropolit Nikolaj von Sarajewo, in der Begleitung seines Patriarchen, war eher bereit, mehr über die aktuelle Lage im Kriegsgebiet auszusagen. Er bedauerte, daß es momentan keine Möglichkeit für ein Treffen mit dem katholischen Erzbischof von Sarajewo, Vinko Puljic, gebe. „Wenn die UNPROFOR uns einen Gefallen tun, dann wird es zu einem Treffen kommen, aber die UNO-Truppen haben selbst alle Hände voll mit Arbeit”, so der Metropolit. Seiner Meinung nach gebe es einen großen Bedarf an so einem Treffen. Vor allem deswegen, weil sich derzeit viele kroatische Flüchtlinge aus Zentralbosnien in den von Serben bewohnten Gebieten befänden. In Sokolac, 40 Kilometer östlich von Sarajewo, wo sich der aktuelle Sitz des Metropoliten befindet, gibt es rund zweitausend Kroaten, darunter auch zwei Priester.

Humanitäre Hilfe kommt in dieses Gebiet aus Belgrad, so Nikolaj. Große Hilfe leisteten die Griechen und orthodoxe Kirchen in den Vereinigten Staaten. Aber das ist alles nicht genug. Die kroatischen Flüchtlinge sind momentan in Zelten untergebracht. In dieser Umgebung, auf 850 Meter Höhe, gibt es strenge Winter. Die schwedischen Soldaten von UNPROFOR hätten etwas für die Kroaten organisieren sollen, um ein Dach über dem Kopf für sie zu beschaffen, aber bis jetzt sei nichts geschehen. Einige Kroaten seien zur Adriaküste gekarrt worden.

Metropolit Nikolai wörtlich: „Wir bemühen uns, etwas zu machen, um den Leuten zu ermöglichen, dorthin zu gehen, wohin sie wollen.” Ob sie wirklich dorthin wollen, das überlegt er nicht einmal. Dasselbe sollte für die Serben gelten, die ih Sarajewo leben. Bis jetzt hat eine kleine Gruppe von Serben Sarajewo verlassen. „Auf der Warteliste”, so der Metropolit, „stehen 1.600 Namen. Die Leute haben in Sarajewo kaum Essen, keine Heizung, keine notwendigen Sachen, die man zum Leben braucht. Es ist schwer zu sagen, ob sie Sarajewo verlassen sollten. Aber woanders hätten sie die Möglichkeit, den Winter zu überleben.”

Die sich jetzt aufdrängende schwere Frage, wer eigentlich für das alles, was hier geschieht, die Verantwortung trägt, beantwortet der Metropolit im christlichen Sinne: „Liebe begleicht große Schuld.”

Was bis jetzt in Bosnien angerichtet wurde, listete jüngst die „Gesellschaft für bedrohte Völker” in Göttingen auf: Serbische Truppen haben bisher 250.000 Bosnier ermordet.

Zehntausende Frauen wurden Opfer geplanter Vergewaltigungen. In Bosnien-Herzegowina wurden im Vorjahr mehr als 100 Internierungs-und Konzentrationslager eingerichtet; allein in Omarska, Keraterm, Foca und Luka Brcko wurden 1992 über 12.000 Häftlinge zu Tode gequält. Eintausend Dörfer und Städte wurden zerstört, eingeschlossene Städte werden seit 20 Monaten bombardiert, 900 Moscheen sind in Flammen aufgegangen.

Vor dem zweiten Kriegswinter bleibt kaum noch Zeit, ein noch größeres Massensterben zu verhindern: 1,5 Millionen eingekesselte Bosnier, darunter mindestens 300.000 Kinder, sind seit Monaten vom Rest Europas abgeschnitten. Sie sind unterernährt und völlig entkräftet. In Bosnien erwartet Europa ein Schrecken wie vor 25 Jahren im afrikanischen Biafra.

Ohnmacht der Reugion

Bei einer Begegnung des serbisch-orthodoxen Patriarchen Pavle mit dem österreichischen Bundespräsidenten am Montag vormittag verwies Kle-stil auf die „erschreckenden Zeichen der Entmenschlichung” in Bosnien und die daraus entstehenden „heute gar nicht abschätzbaren Folgewirkungen auch für künftige Generationen .

Die Religionsgemeinschaften, unterstrich Klestil, könnten im ehemaligen Jugoslawien in gemeinsamer Anstrengung ihre Gläubigen noch stärker als bisher zu Friedensbereitschaft und Mitmenschlichkeit ermahnen. Pavle gab in diesem Zusammenhang der 50jährigen kommunistischen Herrschaft in Jugoslawien die Schuld an der Ohnmacht der Glaubensgemeinschaften: alle drei Religionen - Orthodoxie, Katholizismus und Islam - seien „in den vergangenen Jahrzehnten geistig entleert worden. Wären wir alle vom Glauben beseelt und hätten wir entsprechend gehandelt, dann wären wir niemals in diese schreckliche Situation gekommen.”

Niemand in seiner Heimat, betonte Pavle, habe dieses Ausmaß an Haß zwischen den Volksgruppen erahnt. Der Patriarch sprach sich gegen eine einseitige Bewertung des Krieges aus. Opfer seien alle.

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