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Mit Mut, Phantasie und Liebe

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Von 24. bis 30. März 1992 fand in Budapest die Europäische Evangelische Versammlung statt. Die FURCHE dokumentiert den zweiten - und aussagenreichsten -Teil der dreiteiligen Schlußbotschaft.

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Von 24. bis 30. März 1992 fand in Budapest die Europäische Evangelische Versammlung statt. Die FURCHE dokumentiert den zweiten - und aussagenreichsten -Teil der dreiteiligen Schlußbotschaft.

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II. Wir haben in Budapest intensiv über die Frage nachgedacht, welche Konsequenzen sich für uns und unsere Kirchen in der gegenwärtigen Situation aus der gemeinsamen Erkenntnis des Evangeliums ergeben. Dabei ist uns besonders wichtig:

(1) Das Jahr 1992 erinnert uns an einen langen Schuldzusammenhang der europäischen Christenheit. Die Versöhnung ermutigt und verpflichtet uns zur Wahrhaftigkeit und schenkt Freiheit zum öffentlichen Eingeständnis von Schuld. Zugleich sind wir herausgefordert, Zeugnis und Dienst in unseren jeweiligen Gesellschaften kritisch zu befragen. Aktuell bewegt uns die Situation in den Kirchen Mittel- und Osteuropas. Dort hat es in der Vergangenheit auf dem Weg zwischen Anpassung und Verweigerung selbstverständliches und mutiges Zeugnis bis hin zu Gefängnis und Martyrium gegeben, aber auch schuldhafte Verstrickung in den herrschenden Machtapparat.

Dabei ist die eigentliche Frage, wo und warum wir die befreiende Wahrheit schuldig geblieben sind. So ist nicht nur um der Opfer und Täter, sondern um der glaubwürdigen Bezeugung des Evangeliums willen der redliche Umgang mit der Vergangenheit notwendig. Dabei ist der Geist entscheidend, in dem das geschieht: Daß Menschen nicht leichtfertig verletzt werden, daß wir einander Zeit gewähren, daß wir um die Grenzen der Möglichkeit einer Aufarbeitung wissen und daß Vergebung möglich wird. Doch auch die Kirchen des Westens werden sich herausfordern lassen müssen, den eigenen Weg zwischen Anpassung und Verweigerung kritisch zu überprüfen.

(2) In Europa leben wir in säkularisierten Gesellschaften. Hier haben wir mit Mut, Phantasie und Liebe die missionarische Herausforderung anzunehmen. Wir warnen vor der Illusion einer Rückkehr zu kirchlichen Machtansprüchen, die nie einen Anhalt im Evangelium hatten. Vielmehr geht es darum, allen Menschen zu bezeugen, wer Christus für sie heute ist.

(3) Es ist ein Prüfstein unserer Christus-Verkündigung, ob das Evangelium gute Nachricht für die Armen, die ökonomisch, politisch und sozial Benachteiligten ist. Wegen des sozialen Friedens und der Wohlfahrt ist es erforderlich, das soziale Gefälle zwischen West- und Osteuropa sowie zwischen den nördlichen und südlichen Regionen Europas auszugleichen. Unsere Mitverantwortlichkeit für die Überwindung des Elends in weiten Teilen der Welt darf nicht europäischem Egoismus geopfert werden.

(4) Wir erinnern an die biblisch reformatorische Lehre vom Priester-tum aller Gläubigen. Dabei geht es uns heute um die Mitverantwortung aller Getauften in Gemeinde und Kirche, um die längst nicht eingelöste Gleichstellung von Mann und Frau und um die Uberwindung hierarchischer Verhaltensweisen im Volk Gottes. Um solche Partizipation geht es nicht nur in der Kirche, sondern auch in unseren Gesellschaften. Deshalb fordern wir im europäischen Einigungsprozeß eine bürgernahe Gestaltung der Arbeit der europäischen Institutionen und warnen vor einem administrativen Zentralismus, der keiner wirksamen demokratischen Kontrolle unterliegt.

(5) Als Kirchen reformatorischen Ursprungs haben wir ein Erbe fruchtbar zu erhalten. Wir sind in der Tradition der Reformation verwurzelt und durch die Tradition der Aufklärung mit geprägt. Wir werden aus der Spannung zwischen Glauben und Vernunft nicht entlassen. Der Christus-Glaube trägt und erleuchtet die Vernunft, wie umgekehrt die Vernunft den Glauben kritisch begleitet. Diesem Erbe haben wir uns in Auseinandersetzung mit den Widersprüchen des Säkularismus zu stellen.

(6) Jesus Christus verbindet uns mit Gottes auserwähltem Volk Israel und beruft uns im Neuen Bund als sein Volk inmitten der Völker. Darum gehört unsere erste Loyalität unserem Herrn. Das hilft uns zu einem befreiten Umgang mit der eigenen nationalen Identität. Wir widersprechen mit Entschiedenheit dem Versuch, nationale Differenzen religiös zu legitimieren und damit zu verschärfen. Wir müssen die Leiden der an ihrer Entfaltung gehinderten Völker wahrnehmen und zu einer Kultur gewaltloser Lösung von Konflikten beitragen. Wir setzen uns dafür ein, daß die Lebensund Mitwirkungsrechte von ethnischen und nationalen Minderheiten menschen- und völkerrechtlich geschützt werden.

(7) Die Wahrheit des Evangeliums verpflichtet uns? die Gemeinschaft aller christlichen Kirchen zu suchen und zu vertiefen. Auf diesem Wege waren viele Fortschritte möglich, auch wenn manches Hindernis überwunden werden muß. Wir bitten unsere ökumenischen Partner um kritisches Geleit. Wir wissen jedoch, daß auf dem Weg zur Einheit bloße Freundlichkeit und Toleranz sowie finanzielle Hilfen nicht ausreichend sind. Das wahre Bemühen um Einheit verlangt eine redliche Kritik unserer Positionen.

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