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Mit tieferer Bedeutung

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So uninteressant und routinemäßig die Konzertprogramme der vorletzten Woche waren, um so mehr Anregendes und sinnvoll Programmiertes gab es am vergangenen Wochenende.

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So uninteressant und routinemäßig die Konzertprogramme der vorletzten Woche waren, um so mehr Anregendes und sinnvoll Programmiertes gab es am vergangenen Wochenende.

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Das 4. Abonnementkonzert der Wiener Philharmoniker eröffnete Zubin Mehta mit dem Adagio aus Mahlers 10. Symphonie. Es ist dies der letzte vollendete Satz, den Mahler schrieb —, die übrigen Teile sind, entgegen anderslautenden Meldungen und Versuchen, nicht zu rekonstruieren, und hoffentlich haben wenigstens einige Besucher dieses Konzertes auch an den vor kurzem verstorbenen Erwin Ratz gedacht, der seine letzten Kräfte — und viele Jahre seines Lebens vorher — an die Fertigstellung der kritischen Gesamtausgabe von Mahlers Werk wandte. Das wenige, das noch auf diesem Gebiet zu leisten ist, wird unter der Aufsicht der Internationalen Gustav-Mahler-Gesellschaft in Wien geschehen. (Hierüber werden wir bald ausführlich berichten.)

Es war sehr sinnvoll, nach diesem in seiner Art vollendeten Fragment Schönbergs symphonischen Erstling folgen zu lassen: die im Jahr 1906 komponierte „Kammersymphonie“ für 15 Soloinstrumente op. 9. Mehta leitete mit aller wünschenswerten Deutlichkeit und Intensität die 15 Philharmoniker, jeder ein Meister seines Faches, so daß der Gesamteindruck der allerbeste war. — Mit der das Konzert beschließenden Or-gelsymphonie von Camille Saint-Saens (1886) und ihrem düster-theatralischen Pathos können wir heute freilich nicht mehr viel anfangen. Liszt und seine Faust-Symphonie mögen den Mitbegründer der So-ciete Nationale de Musique zu dem pompösen Werk angeregt haben. Aber wie immer man auch zu ihm stehen mag: es war sinnvoll, an eine lebenslange Verbindung dieses überaus fruchtbaren Komponisten (14 Opern, 5 Symphonien u. a.) mit dem Wiener Musikleben zu erinnern. — Den konventionellen Orgelpart spielte Peter Planyavsky.

Es ist fast nicht zu glauben, daß ein so vorzüglicher und renommierter Orchestererzieher und Dirigent wie “Willem van Otterloo am vergangenen Samstag und Sonntag Abend zum ersten Mal mit dem von ihm seit 25 Jahren geleiteten, vorzüglichen, soliden Residentie Orkest den Haag im Musikverein gastierte, und zwar als „Ersatz“ für den vor kurzem verstorbenen Bruno Maderna. — Wie gut eignet sich Wagners „Siegfried-Idyll“ zum Einspielen! Die von dem jungen Bariton Robert Holl ausdrucksvoll gesungenen und vom Orchester aufmerksam begleiteten „Kindertotenlieder“ Möhlers erinnerten an die dankenswerte und konsequente Mahler-Pflege in Holland. (Nirgends ist Mahler zu seinen Lebzeiten so oft aufgeführt worden und selbst am Dirigentenpult gestanden wie im Amsterdamer „Con-certgebouw“.)

Claude Debussys „Iberia-Suite“, eines der drei selbständigen Orchesterbilder, an denen Debussy von 1902—1912 arbeitete, zeigen ihn hier von seiner liebenswürdigsten und virtuosesten Seite. Wie viele haben von diesem sublimierten Hispanis-mus profitiert! — Wie ein Rocher de bronce wirkte in diesem Programm Strawinskys Symphonie für Blasinstrumente: ein kurzes, lapidares, herbes Stück, das er dem Andenken Debussys bald nach dessen Tod gewidmet hat. Die Partitur ist in den Jahren 1920'21 entstanden und will keinesfalls ein Nachruf in der Sprache Debussys sein, sondern das Beste bieten von dem, was Strawinsky in den Jahren seit dem „Sacre“, den Debussy noch mit gemischten Gefühlen, aber sehr aufmerksam angehört hatte, an eigenen Stilmitteln erworben hatte.

Auch LadisJav Kupkovic beschloß und krönte sein Konzert mit dem ORF-Symphonieorchester samt Damenchor mit einem Werk Debwssys, den „Trois Nocturnes“, die an dieser Stelle wiederholt gewürdigt wurden, in so sorgfältiger Ausführung (einschließlich des oft weggelassenen Satzes „Sirenes“), daß sie immer wieder Freude machen und uns zeigen, woher eigent^ch fast alle neue Musik herkommt.

Nun, in Dieter Kaufmann, Jahrgang 1941, hat Debussy jedenfalls einen eigenwilligen, illegitimen Nachfahren. In seinem etwa 20 Minuten dauernden, 1971 vollendeten „Concertmobil“ zeigt der junge talentierte Wiener Komponist, wo und was er alles gelernt hat: bei Schiske und Einem, bei Messiaen und in der „Groupe de Recherches Musicales“, die P. Schaeffer beim ORTF in Paris leitet. Das Werk ist vor allem vom Klanglichen her interessant — und wirksam: zuerst spielt ein Streichorchester live mit Baßtuba vom Tonband, dann folgt die Solovioline (live) mit Blaskapelle; zum Schluß werden die auf Tonband aufgenommenen Teile mit dem vollen Orchester kombiniert. Aber was wichtiger ist als diese „Technik“: es entsteht eine manchmal faszinierende Musik von bedeutender Durchschlagskraft und starkem Stimmungsreiz.

Ladislav Kupkovic, Jahrgang 1937,in Preßburg geboren und ausgebildet, war zunächst Pionier der neuesten Musik in seiner Heimat und übersiedelte dann in die Bundesrepublik. Er leitete mit Kennerschaft das dreiteilige Konzert und führte seine bereits 1968 vollendete und seither wiederholt gespielte Komposition „Dioe“ vor. Es handelt sich hier um „Orchesterspiele mit Dirigenten“, um eine Aneinanderreihung „zielbewußter Improvisationen“ einzelner Gruppen und Instrumenta-listen (insgesamt 73), deren Leitung bzw. Koordination vom Dirigenten und einem Schaltpult aus erfolgt. Es ist also ein Stück, das jedesmal anders erklingt. Aber ob es diesmal, am vergangenen Freitag, im gutbesuchten Großen Musikvereinssaal zu optimaler Wirkung gekommen ist, vermöchte nur der Dirigent zu sagen ...

Einen der schönsten, harmonischesten Gtdda-Abende der letzten Jahre erlebten wir vorige Woche im Großen Konzerthaussaal: auf dem Podium, in schwarzem Rollkragenpullover am Bösendorfer, ein gutgelaunter, völlig entspannter, in bester Form befindlicher Friedrich Gulda, im vollbesetzten Saal fast nur junge Leute, die sich ihre Karten brav gekauft hatten, so zwischen 10 und 80 Schilling. Im ersten Teil spielte Gulda — ohne Programmankündigung („Sie werden es schon erkennen!“) Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier, nicht „im alten Stil“, aber auch nicht verjazzt, sondern einfach schön, ausdrucksvoll und natürlich. Dann, nach einer ausgedehnten Pause, folgten — nach einem Übergangsstück, das man Bach ä la Gulda oder Gulda dans la maniere de Bach bezeichnen könnte —, eigene Kompositionen, größtenteils Bekanntes (natürlich auch „Play Piano Play“), Stücke für seinen 12jährigen Sohn, bei denen ihm Chopin und Schumann über die Schulter schauten. Und schließlich Ureigenstes aus Guldas wohlassortierter Hexenküche, mit vielen Anklängen an Debussy, Ravel und Gershwin, an Jazz und Exotisches, besonders an Spanisches. Aber was tut's? Man unterhielt sich zwei Stunden lang glänzend bei guter, meist rhythmisch rasanter Musik. Und bewunderte natürlich immer wieder auch den Virtuosen Gulda.

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