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Mit Wissen, Geist und Charme

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Dieses Bucih ist, inhaltlich, mehr als ein Lexikon. Und es ist, was Ausstattung und Umfang betrifft, keineswegs ein „Taschenbuch“, sondern, sorgfältig gedruckt, in Ganzleinen fest gebunden, ein Buch von fast 1000 Seiten für die Bibliothek. Zu möglichst häufigem Gebrauch nicht nur Studenten und Fachleuten, sondern an allgemeiner Bildung Interessierten, vor allem aber den Gebildeten jeder Provenienz aufs wärmste zu empfehlen.

Der Autor, der an diesem Werk seit etwa 1966 gearbeitet hat, knapp 40 Jahre alt, aus Schwaben gebürtig, studierte in München, Paris und Tübingen Romanistik und, wie die Lektüre der einzelnen Artikel zeigt, auch noch einiges andere. Seit 1971 ist er Professor für französische

Sprache und Literatur in Berlin. Mit seinem Fachwissen und seiner universellen Bildung, seiner Weitläufigkeit und seinem Humanismus setzt er die Reihe großer Romanisten fort, die ja immer eine aus originellen Einzelgängern bestehende Elite unter den-Phdl®l9gfin « waren, eine Nobel-

kaste, eben „aus feinerem Holz“, wie Thomas Mann zu sagen pflegte. Wir nennen nur die Namen Emst Robert Curtius und Karl Vossler, Viktor Klemperer und Eduard Wechsler, Leo Spitzer und Emil Winkler. Sogar die Sprachforscher, die eigentlichen Philologen, wie Gerhard Rohlfs und Emst Gamillscheg, waren etwas Besonderes: große Herren an der Fakultät. Wir glaubten, fürchteten, daß mit Hugo Friedrich, diesem feinen und hochgebildeten Gelehrten, die Reihe abgebrochen sei. Aber siehe da: Es gibt auch in der mittleren Generation hocherfreuliche Repräsentanten der Romanistik, die weiter sehen als nur bis zum nachbarlichen Kirchturm.

Dieses Lexikon also besteht aus einer Fülle von Einzelartikeln über die französischen Dichter und ihre Werke, über Gattungen, Epochen, Stilistisches und Metrik, es bezieht Moralisten und Philosophen, Schauspieler, Regisseure, Verleger und Maler mit ein — und betreut besonders aufmerksam ‘die Wahlfranzosen, und zwar nicht nur diese, sondern auch solche Autoren, die nur einen Teil ihres Werkes in französischer Sprache geschrieben haben, wie etwa Arrabal, Beckett und Ionesco. Wie erfreulich, neben dem windigen Vin- tila Horia auch den Rumänen Mürcea Eliada zu finden, einen der bedeutendsten Religionsphilosophen und Kulturkrdtiker unserer Zeit, neben Kerėny der größte Mythenkenner. Und dann, zwischen den „Serments de Strasbourg“, dem ersten französischen Sprachdokument von 842 und der Franęoise Sagan, Jahrgang 1935, die hinreißenden Biographien und Werkbesprechungen von Voltaire, Balzac, Camus und Malraux — um nur einige herauszugreifen. Was für Gestalten! Und was für schriftstellerische Leistungen! Hier gibt es so blitzgescheite Charakterisierungen und Definitionen, daß man einen selbständigen, für einen Wettbewerb eingereichten Essay zu lesen vermeint — und nicht einen Lexikonartikel: „Camus "suchte mehr als nur -isfl das Glück, er strebte nach einem Heil, das diesseitiger Prägung ist“; sein Kulturbild identifizent der „Revolutionär“ fast selbstverständlich mit dem offiziellen der Schulen des Mutterlandes … Und über Genet heißt es, daß er das Böse, mit dem Baudelaire nur gespielt hatte, realisiert. Malraux’ Leben ist abenteuerlich und heroisch: 1926—1927 Teilnehmer an der chinesischen Kulturrevolution, sein Engagement als Antikolonialist, 1936—1938 Kommandeur eines Kampffliegergeschwaders im spanischen Bürgerkrieg, im Zweiten Weltkrieg Kommandeur einer Panzertruppe, 1945—1946 im 1. Kabinett de Gaulles, 1958—1969 der brillanteste französische Minister für kulturelle Angelegenheiten … Wann, so fragt man sich, hat der Mann seine großen Bücher geschrieben und das Musėe imaginaire, eine Übersicht über die Skulptur aller Zeiten und Zonen, zusammengestellt (es war 1952—1955).

Man vermißte vielleicht beim ersten Blättern einen Artikel über den Existentialismus, aber man wird durch den über Sartre, dessen Großvater ein Onkel von Albert Schweitzer war, sowie durch eine ganze Reihe von Artikeln, die sich mit einzelnen Werken Startres befassen, reichlich entschädigt: „La Nausėe“, „L’Etre et le Nėant“, „Les mains sales“ u. a., und man erfährt so nebenbei, daß Sartre 1940/41 im Kriegsgefangenenlager in Trier eine Vorlesung über Heidegger gehalten und für seine Mithäftlinge, hauptsächlich Priester, ein „Weihnachtsspiel“ verfaßt hat. Das würden wir einmal gern lesen! Selbstverständlich läßt Winfried Engler weder die Nėgritude noch ihre Hauptvertreter Sėdar Senghor und Aimė Cėsaire, der 1939 den Begriff prägte, draußen vor der Tür. Aber wie hübsch, daß unser Lexikograph auch weiß, das „Salome“ von Oscar Wilde ursprünglich französisch geschrieben wurde und daß Friedrich II. nicht nur Mau- pertuis und Voltaire in die Berliner Akademie aufgenommen, sondern auch die französische Sprache als Schulfach in Preußen eingeführt hat. Und man erfährt noch vieles andere mehr. Daher — ein „avis au lecteur“: Vorsicht, dieses Buch ist ein gefährlicher Zeiträuber. Man sucht etwas, findet es, beginnt dann nachzuschlagen und zu blättern, bleibt da und dort hängen, kommt sozusagen vom Hundertsten ins Tausendste — und schwupp sind zwei Stunden vergangen. Nicht jedes Lexikon 1st so charmant…

LEXIKON DER FRANZÖSISCHEN LITERATUR. Von Winfried Engler. Alf red-Kröner-Verlag, Stuttgart. 975 Seiten. Preis 34 DM.

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