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Mitschöpfer der Bundesverfassung

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Im altösterreichischen Prag am 11. Oktober 1881 geboren, am 19. April 1973 in Berkeley in Kalifornien gestorben: 92 Jahre umspannte das Leben eines der bedeutendsten Rechtstheoretiker unseres Jahrhunderts, der als Mitschöpfer der österreichischen Bundesverfassung weit über den Kreis seiner Disziplin hinaus bekannt, ja berühmt geworden ist.

Weit über Europa hinaus, zumal nach Lateinamerika und Japan, reicht Kelsens Bedeutung als Schöpfer der „Reinen Rechtslehre" (so auch der Titel eines seiner wichtigsten, 1934 erschienenen Werke). Kelsen bezeichnete seine Rechtslehre deshalb als „rein", weil sie, von allen Beimengungen soziologischer, politologischer oder ethischer Herkunft entschlackt, eine „rein" juristische Methodik der Jurisprudenz begründen sollte.

Rechtsnormen sind nur von Rechtsnormen höheren Ranges ableitbar, Gesetze selbst sind von der Verfassung im positiv-rechtlichen Sinn ableitbar, und diese schließlich von der als „Verfassimg im rechtslogischen Sinn" gedachten, nicht weiter ableitbaren hypothetischen „Grundnormen".

Kelsen selbst hat einen historisch-psychologischen Zusammenhang zwischen dem alten

Osterreich und der Entstehung der „Reinen Rechtslehre" hergestellt.

„Angesichts des österreichischen Staates", schrieb Kelsen in seiner Autobiographie, „der sich aus so vielen nach Rasse, Sprache, Religion und Geschichte verschiedenen Gruppen zusammensetzte, erwiesen sich Theorien, die die Einheit des, Staates auf irgendeinen sozial-psychologischen oder sozial-biologischen Zusammenhang der juristisch zum Staat gehörigen Menschen zu gründen versuchten, ganz offenbar als Fiktionen. Insofernė diese Staatstheorie ein wesentlicher Bestandteil der Reinen Rechtslehre ist, kann die Reine Rechtslehre als eine ,spezifisch-österreichische Theorie’ gelten."

Tatsache ist, daß Kelsen und Mitglieder seines Kreises wichtige Beiträge zur Theorie der Reinen Rechtslehre anhand von Interpretationen altösterreichischer Verfassungsprobleme erarbeiteten. Kelsen selbst hat originelle Ideen jüngerer Wissenschaftler stets dankbar anerkannt, wie etwa Adolf Merkis Theorie vom „Stufenbau der Rechtsordnung".

Es kommt nicht oft vor, daß ein Gelehrter auf der Höhe seines Ruhmes ein Buch jüngeren Kollegen widmet, wie Kelsen dies mit der zweiten Auflage seiner „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" 1923 tat: Sie ist Adolf Merkl und Alfred Verdroß gewidmet.

In Österreich interessiert vor allem die Frage: Welchen Anteil hat Kelsen am Werden der Bundesverfassung? Ist es zutreffend, ihn als „Schöpfer der Bundesverfassung" zu bezeichnen?

Es scheint angemessener, in Kelsen einen „Mitschöpfer" oder Mitgestalter der Verfassung zu sehen. Der Inhalt der Bundesverfassung ist in erster Linie das im Kompromißwege geschaffene Werk der politischen Kräfte Österreichs; die Form ist allerdings weitgehend von Kelsen geprägt worden.

Wenn wir nach den Namen von „Verfassungsvätern" suchen — um einen der amerikanischen Verfassungstradition entstammenden Begriff zu gebrauchen -, dann muß man neben Kelsen Karl Renner, Robert Danneberg und Otto Bauer bei den Sozialdemokraten, Michael Mayr, Jodok Fink und Ignaz Seipel auf christlichsozialer Seite nennen!

Kelsens persönlicher Anteil mußte dort am geringsten sein, wo die politischen Interessen am stärksten zur Geltung kamen: Das war insbesondere bei den Kompetenzabgrenzungen zwischen Bund und Ländern der Fall, oder bei Gestaltung der Organe der

Bundesgesetzgebung. Kelsen selbst sagte 1968 rückblickend:

„Meine eigene Tendenz war, die mir gegebenen politischen Prinzipien in einer rechtstechnisch möglichst einwandfreien Weise zu kodifizieren und dabei wirksame Garantien für die Verfassungsmäßigkeit der Staatsfunktionen einzubauen."

Die Struktur der Bundesverfassung, ihre Einteilung in sieben Hauptstücke, geht im wesentlichen auf Kelsen zurück. Von Anfang an plante Kelsen ein Hauptstück über „Die Garantien der Verfassung und Verwaltung", in dem die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Verfassungsgerichtsbarkeit verankert sind.

Der Verfassungsgerichtshof ist nicht eigentlich eine „Erfindung" Kelsens; er geht auf das altösterreichische Reichsgericht zurück, und der ideelle Anteil Karl Renners am Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit ist größer, als man bislang annahm. Doch hat Kelsen zurecht gerade im Verfassungsgerichtshof, dem er bis 1930 angehörte, eine damals in Europa neuartige Einrichtung zum Schutz der Verfassung gesehen.

In einer berühmten Polemik gegen Carl Schmitt, den juristischen Steigbügelhalter des Nationalsozialismus, hat Kelsen das Verfassungsgericht als „Hüter der Verfassung" bezeichnet. Auch Art. 18 der Bundesverfassung, der die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung normiert, geht auf Kelsen zurück.

Gerade die rechtsstaatlichen Komponenten unserer Verfassung sind stark von Kelsen geprägt worden — im Sinne seiner Uberzeugung, daß die politische Funktion einer Verfassung darin bestehe, „der Ausübung der Macht rechtliche Schranken zu setzen".

Der Autor ist ordentlicher Professor für Geschichte der Neuzeit an der Univejsität Wien.

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