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Moderne christliche Ethik

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Der emeritierte Universitätsprofessor Dr. Johannes Messner, 1891 in Tirol geboren, hat wie kein anderer österreichischer Sozialethiker katholische Soziallehre nicht nur interpretiert, sondern auch maßgeblich mitformuliert. In seinem Hauptwerk „Das Naturrecht“ hat er die Sozialverpflichtungen des Christen jenseits positiver Rechtsnormen angesiedelt. Die FURCHE schuldet dem großen Gelehrten Respekt und Dank für die vorliegende ausführliche Rezension.

„Die Bewegung, in der sich die theologische Ethik heute in allen Bereichen befindet“, heißt es im vorliegenden Handbuch christlicher Ethik, „ist gekennzeichnet durch die Suche nach neuen theologischen Integrationsmöglichkeiten auf dem Felde einer material prinzipiell unab-schließbaren und darum auch in ihrer Grundlegung offenen Situation der Ethik“ (I. 215). Das Handbuch will daher, wie es selbst sagt, nicht als abgeschlossenes Kompendium, sondern als Anstoß und Anregung für einen weitergehenden ethischen Diskurs in Kirche und Welt verstanden werden. Die Herausgeber „hoffen auf eine diskussionsfreudige und kritische Leserschaft“.

Ein Ereignis wird das Handbuch, weil zum erstenmal bei einer solchen Gelegenheit die Idee der Ökumene zu einem erfolgreich verwirklichten Prinzip geworden ist, da von den vier Herausgebern zwei katholisch-theologischen, zwei evangelisch-theologischen Fakultäten angehören. Gleicherweise verteilen sich die 44 Mitarbeiter, „die für ihre Beiträge eigenverantwortlich zeichnen“. Unser Hinweis auf die beiden je über 500 Seiten umfassenden Bände kann nur Schlaglichter auf einzelne Probleme werfen.

Der erste Band beginnt mit der ethischen Rationalität der Neuzeit und der Stellung der natürlichen sittlichen Vernunft in der christlichen Ethik. Die Rationalität wird begriffen aus der zunehmenden Selbstreflexion der sittlichen Vernunft, zugleich aus dem unbestrittenen Anspruch der Vernunfterkenntnis in den modernen Naturwissenschaften, der sich nun auch in der Ethik geltend mache.

Die theologische Ethik selbst hat sich, bemerkt das Handbuch zu Recht, mit der der neuzeitlichen Entwicklung des sittlichen Bewußtseins eigenen Rationalitätsforderung bis zur Gegenwart nicht hinlänglich auseinandergesetzt. Vielmehr habe die Theologie die von ihr ausgelösten Fragen weitgehend der Philosophie überlassen und habe so teilweise den Anschluß an die von ihr selbst ausgehende Vernunft- und Freiheitstradition verloren. Das christliche Ethos gerate in Gefahr, seine Universalität zu verlieren und zu einer theonomen Gesetzesethik für den christlichen Binnenbereich zu werden.

Angesichts der betont offenen Si-

tuation der wissenschaftlichen Ethik mit der Notwendigkeit des Diskurses kommt den Darlegungen über die Grundformen heutigen ethischen Argumentierens erhöhte Bedeutung zu. Neben der transzendentalphilosophischen Fundierung des Humanuni werden der sprach- und normanalytische Weg und die empirische Argumentation dargelegt. Das Ziel ist die Sicht auf eine umfassende wissenschaftliche ethische Theorie (104 f.).

Der „archimedische Punkt heutiger Normtheorie“ liege darin, daß gegenwärtig alles Bemühen des Menschen, zu einer inhaltlichen Bestimmung von Gut und Böse mit Hilfe von konkreten Normen zu gelangen, nur soweit überzeugen kann, als es auf das Vollmaß des Menschseins des Menschen ausgerichtet ist. Nur so könne sich der Mensch auch bei der Normgestaltung und Normannahme „als autonom, d. h. selbstgesetzgebend“ wissen. Hier liege die entscheidende Wurzel für den sich abzeichnenden Wandel im gesellschaftlichen Normverständnis. Die Frage sei heute nicht mehr nur, ob wir den überkommenen moralischen Normen entsprechen, sondern ob diese Normen vernünftig sind.

„Die Moral ist ein Kunstprodukt der menschlichen Vernunft, erdacht und durchgesetzt von Menschen für Menschen“ (1.114). Diese ihre Herkunft teile die Moral mit allen anderen Hervorbringungen des Menschen, der Sprache, den Wissenschaften, der Technik vom Faustkeil bis zum Computer.

Diese Reihung dürfte schwer vereinbar sein mit der Tatsache, daß die menschliche Vernunft nicht nur eine logische Kraft (z. B. Gesetz des Widerspruchs) ist, sondern ebenso ein ehti-sches Vermögen (z. B. Wissen von Recht und Unrecht mit entsprechendem Streben). Weil dieses auf das wahrhafte Menschsein zielt, wurde von der katholischen Ethik von einer Art sittlicher Autonomie gesprochen.

Heute werde mit der Idee der Aur tonomie, sagt das Handbuch, die Erarbeitung eigener wissenschaftlicher Grundlagen der Ethik unabhängig von der Dogmatik gesucht; die katholische Moraltheologie habe sich mit der Theorie der Autonomie auf breiter Front auf eine Auseinandersetzung mit dem spezifisch neuzeitlichen Freiheitsbegriff eingelassen (I. 214).

Die zentrale Frage theologischer Ethik sei in der Tat die nach der Freiheit des Menschen. Freiheit in einem theologischen Sinn sei die natürliche, nämlich dem Schöpfungssinn Gottes entsprechende Wirklichkeit des Menschen.

Auf dem Boden des Christentums sei die Freiheit durchaus Freiheit der Person. Weil der Mensch als Person von Gott angenommen ist, stelle die theologische Würde, die das Individuum dadurch erhält, zugleich einen Schutz des Menschen vor weltlicher Macht und Herrschaft dar. Wie auf die Annahme durch Gott seien die Menschen angewiesen auf die gegenseitige Annahme in Sozialität. Damit finde die Antwort auf die Frage nach dem spezifisch Christlichen der Ethik die elementare Fassung im Liebesgebot. Das Bewußtsein der Freiheit wecke die Aufmerksamkeit für Unfreiheit in jeder Form, wecke daher auch das Emanzipationsbestreben. Erforderlich wäre hier eine eingehende Diskussion der heute im Gang befindlichen Ideologisierung des Emanzipationsbegriffes durch die Neue Linke bzw. den Neomar-xismus.

Der Emanzipationsbegriff wird um so wichtiger, als die Moraltheologie seit Jahren dazu übergegangen ist, der individuellen persönlichen Entscheidung einen weitergespannten Bereich im Vergleich zum bloßen Gesetzesgehorsam zuzuerkennen. Angesichts dieser Tatsache muß das Fehlen der eingehenden gesonderten Behandlung des Gewissens als Mangel empfunden werden. Dies um so mehr, als heute allgemein von Selbstverwirklichung des Menschen gespro-

chen wird, womit sich die Frage nach den maßgebenden sittlichen Grundsätzen der Persönlichkeitsethik mit den sich an den Einzelmenschen als solchen richtenden Forderungen stellt.

Unter den Vermittlungsinstanzen christlicher Ethik werden erörtert: die Schriftgemäßheit der Ethik, die Kirche und ihr Lehramt, das Verhältnis von Dogmatik und Ethik, die Bedeutung der säkularen Wissenschaft für die Ethik. Bei der Erörterung der ethischen Traditionen wird das Naturrecht in seiner geschichtlichen Entwicklung besprochen, ebenso die Zwei-Reiche-Lehre und Königsherrschaft Christi, ausführlich die Wandlungen der Ethik in der außereuropäischen Christenheit.

Mit großer Ausführlichkeit und in Auseinandersetzung mit einer Reihe bekannter Denker der Gegenwart wird die christliche Ethik als Integrationswissenschaft behandelt. Damit stellen sich heute die Fragen nach der Möglichkeit menschlicher Identität, d. h. nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen vollmenschlichen individuellen Seins des Menschen als Person - dies namentlich angesichts der wachsenden kollektiven Sozialität.

Wegen der auf Gottes Offenbarung begründeten Rechtfertigungslehre könne die Identität des Menschen nicht in Sozialität aufgelöst werden; vielmehr sei alle Integration zu verstehen als Vorgang der Vermittlung zwischen Verantwortung der Person und der Eigenstruktur der sachlichen Bereiche. Daraus folge ein ideologiekritischer Impuls theologischer Ethik gegenüber solchen Konzeptionen, die vom gesellschaftlichen System aus über das Wesen des Menschen zu verfügen und es von da aus zu definieren suchen.

Der zweite Band beginnt mit Leben und Gesundheit. Behandelt werden Erbschäden und die Möglichkeiten ihrer Eindämmung, die Manipulation des menschlichen Erbgutes, die Sucht- und Drogenprobleme. In der Frage des Schwangerschaftsabbruches wird eine plausible Argumentation nur für die vitale Indikation zugegeben, wenn das Leben des Kindes und das der Mutter gegeneinander-stehen und die Güterabwägung für das der letzteren spricht.

Der christliche und der auf körperliche Aspekte hin verkürzte moderne Gesundheitsbegriff ergeben, wie das Handbuch darlegt, ein vom christli-> chen Denken verschiedenes Verständnis für Voraussetzung und Inhalt individueller Lebensqualität.

New sind die Probleme der Umweltethik. Auf die Frage „Was müssen wir uns die Gesundheit gesellschaft-lich kosten lassen?“ lautet die Antwort: Mehr als bisher, und zwar zugunsten der Schwachen, was für die Begüterten einen erheblichen Verzicht bedeuten würde! Weites Interesse werden die Darlegungen über Euthanasie sowie Sterbehilfe, die Todesbewältigung in der säkularisierten Gesellschaft (Glaube an das mit dem Tode erfolgende Einsinken in das All) und die Wahrheit am Krankenbett finden.

Unter „Ehe und Familie“ werden Fragen behandelt, die in der traditionellen Ethik noch keinen eigenen Ort hatten, so die Ehescheidung und die Wiederverheiratung Geschiedener, besonders auch die Integration wiederverheirateter Geschiedener in die kirchliche Gemeinde. Die sexuellen Beziehungen Unverheirateter wer-

den als die Herausforderung der neuen Moral auf Grund der Privatisierung des sexuellen Verhaltens, des Zurücktretens früherer normativer Zwänge, der Gleichberechtigung der Frau, der früheren physischen und psychischen Reife des jungen Menschen gesehen.

Die theologische neue Moral suche eine Integration von Sexualität und Personalität. Diese fehle in der hedonistischen Moral. Das sei der Punkt, an dem sich die Geister scheiden. Auch der Katholik wird gegenüber den protestantischen „situationsethischen Pionieren einer neuen Sexualmoral“ wesentliche Vorbehalte anzumelden haben. Hinsichtlich der Homosexualität und der Perversion, deren mangelhafte Erforschung hervorgehoben wird, seien Normen zu finden, die das Gebot der Nächstenliebe konkretisieren, „aber die Findung neuer Normen wird wohl noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen“.

Beim Thema Verfassung, Politik, Recht wird die zentrale Bedeutung der Menschenrechte festgestellt - mit einer fast gleichen Annahme von Basisrechten auf katholischer und protestantischer Seite, die ein gemeinsames Eintreten der Kirchen für die Verwirklichung der Menschenrechte

ermöglichen müßte (260). Die Kirchen seien heute genötigt, sich mehr auf eine argumentative Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen und mit Ideologien einzulassen.

In dem Kapitel „Politik“ wird gelegentlich der Begriff Gemeinwohl gebraucht, jedoch auffälligerweise fehlt eine eigene Behandlung dieses zentralen Begriffes der Sozialethik und besonders der politischen Ethik.

Einleitend zur Behandlung des Rechts wird eine gediegene Darstellung der Naturrechtsidee geboten. Mit der Bewegung zugunsten der Durchsetzung grundlegender „Menschenrechte“ werde in neuer Form der alte Naturrechtsgedanke wieder aufgenommen. Der Verfassungsgesetzgeber der Bundesrepublik Deutschland habe, ohne das Wort „Naturrecht“ zu gebrauchen, die gesamte Rechtsordnung auf ein vorpositiv geltendes Recht aufgebaut. Von der österreichischen Rechtsordnung läßt sich das nicht sagen.

Mit der Akzentuierung von Arbeit und Eigentum werden zwei Grundtatsachen der modernen Volkswirtschaft umgangen, wie es in der katholischen Ethik bisher üblich war. Die eine ist das Interesse als Triebkraft der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, das in den gehörigen Grenzen ein Naturi%cht des Menschen (Menschenrecht) bildet. Die zweite Grundtatsache bildet die des Wechselwirkungszusammenhanges der sich in der Marktwirtschaft betätigenden Interessen (Angebot und Nachfrage).

Allseitig behandelt müßten die mit dem kollektiven Arbeitsvertrag (Tarifvertrag) verbundenen Rechte und Pflichten der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften werden. Namentlich wäre zu fragen, wieweit Einkommensansprüche der Interessenverbände im Widerspruch zum Gemeinwohl, wenn sie Inflation und Arbeitslosigkeit verursachen, durchgesetzt werden dürfen. Damit verbindet sich die Frage, wieweit der Staat als Hüter des Gemeinwohls eine absolute Tarifhoheit gelten lassen darf, die die Gemeinwohlgrenzen bei der Durchsetzung ihrer Interessen nicht anerkennt.

Bei der Behandlung der Eigentumsprobleme wird kritisch die heutige Stellung von Großunternehmen vermerkt, wenn sie Macht auf die in der Wirtschaft tätigen Menschen und auf das ganze öffentliche Leben ausüben. Das Recht „auf (besser „zur“) Arbeit als Menschenrecht wäre im Zusammenhang mit den damit verbundenen Aufgaben von Staat (Vollbeschäftigung) und Privateigentum (Investitionspolitik) zu diskutieren. Im Aufriß werden die Probleme der Vermögensbildung und Mitbestimmung behandelt.

Zum Begriff der Qualität des Lebens wird die von der OECD aufgestellte Liste von gesellschaftlichen Indikatoren angeführt. Diese Liste umfaßt zehn Gruppen von Indikatoren, worunter, nicht überraschenderweise, die für das christliche Denken maßgebenden Indikatoren fehlen. Daß sich für die Lebensqualität nach christlicher Auffassung die heute beherrschenden Ziele Wirtschaftswachstum und Einkommenssteigerung der Industriegesellschaft relativieren, müßte ausführlich dargelegt werden - namentlich angesichts der 600 Millionen Menschen, die nicht die notwendigen Nahrungsmittel haben (Bericht der Weltbank 1978), und der Milliarde von Menschen, die nicht das wirtschaftliche (Wohnung) oder gar das kulturelle (Analphabetentum) Existenzminimum erreichen.

Der Beitrag gegen Ende des zweiten Bandes über „Bildung und Sittlichkeit“ ist besonders zu erwähnen. Die „Menschwerdung des Menschen“ sei ebenso eine Frage der Bildung wie der Ethik. Beherrschend seien heute die großen Themen der politischen Ethik, der Wirtschaftsethik, der Herrschaft von Menschen über Menschen, also der Sozialethik. Die Fragen, welche die Person selbst betreffen,fänden dagegen weniger Aufmerksamkeit.

„Das, was sich im intimen Bereich abspielt, das, womit der einzelne für sich allein zu tun hat, ist das Schwere ... Eben hier wird die Glaubwürdigkeit der Ethik erbracht. Und wenn sie hier erbracht ist, dann steht nichts im Wege, sie auch an den großen Problemen unserer Gesellschaft zu bewähren.“ Das bestätigt die eingangs gemachte Bemerkung, daß im Handbuch eine eigene Darstellung der Persönlichkeitsethik nicht fehlen sollte.

Das Handbuch wird eine unersetzliche Hilfe in der weiteren ethischen Auseinandersetzung bilden, namentlich hinsichtlich der seit den letzten Handbüchern neu sich stellenden zahlreichen grundlegenden und konkreten Probleme. Die stichhaltige Kritik an der traditiqnellen christlichen Ethik wird genug Anhaltspunkte finden. Anderseits wird eine umsichtige Analyse Kritik nicht weniger Positionen der dargebotenen modernen christlichen Ethik herausfordern, so daß noch mancher Diskurs erforderlich sein wird, um für deren größeren Teil universale intersubjektive Anerkennung zu erreichen.

HANDBUCH DER CHRISTLICHEN ETHIK. Herausgegeben von Anselm Hertz. Wilhelm Korff, Trutz Rendtorff, Hermann Ringeling. Verlag Herder, FreiburgIBreisgau: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn. Zwei Bände mit 520 und 560 Seiten, geb. (Schutzumschlag in Schuber). Subskriptionspreis bis 31. März zusammen öS 1264,-.

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