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Modernes Volksgruppenrecht - ein Schritt zur Friedenssicherung

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„Wird eine Regionalisierung der Nationalstaaten die europäische Einigung fördern oder hemmen? Da bisher der Einigungsprozeß in der Hauptsache durch nationalstaatliches Eigeninteresse verhindert worden ist und wird, darf angenommen werden, daß ein Abbau der staatlichen Souveränitäten nach unten - durch mehr Rechte an die Landschaften und Regionen und an die mit ihnen verbundene Menschengruppen - die Bewegung zum übernationalen Zusammenschluß nur wird fördern können. Die Nationalstaaten werden weder zugunsten Europas, noch der Regionen verschwinden, aber sie werden relativiert.“

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„Wird eine Regionalisierung der Nationalstaaten die europäische Einigung fördern oder hemmen? Da bisher der Einigungsprozeß in der Hauptsache durch nationalstaatliches Eigeninteresse verhindert worden ist und wird, darf angenommen werden, daß ein Abbau der staatlichen Souveränitäten nach unten - durch mehr Rechte an die Landschaften und Regionen und an die mit ihnen verbundene Menschengruppen - die Bewegung zum übernationalen Zusammenschluß nur wird fördern können. Die Nationalstaaten werden weder zugunsten Europas, noch der Regionen verschwinden, aber sie werden relativiert.“

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Die europäischen Minderheiten und Volksgruppen haben an beiden Tendenzen ein ureigenstes Interesse: an der Dezentralisierung der Staaten und am vereinenden europäischen Überbau, der eben dann kein bürokratischer neuer Super-Nationalstaat mehr werden könnte und der ihre Rechte erst sichert Volksgruppen und Minderheiten, die in den Grenzzonen zwischen großen Nationen leben, wie die Südtiroler, die Elsässer oder, vor dem einsetzenden Nationalitätenkonflikt, auch die Sudetendeutschen in den bömischen Ländern, wären dann nicht mehr Zankapfel, sondern Bindeglied, treibende Kraft für Europa.“

Theodor Veiter, einer der führenden Experten zu Fragen des Volksgruppenrechts, Honorarprofessor an der Universität Innsbruck (und langjähriger FURCHE-Mitarbeiter) stellt diese Vision in den Mittelpunkt einer umfassenden Analyse über „Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht“, deren erster Band kürzlich gemeinsam von der „Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit“ und dem Verlag Braumüller in Wien herausgegeben wurde. „Hier wird eine der großen Herausforderungen an den rechtsschöpferischen und politisch gestaltenden Menschengeist deutlich“, heißt es im Vorwort, „kulturell lebensfähigen Minderheitsgruppen kodifiziertes Recht auf Eigenständigkeit und Selbstbestimmung im Zusammenleben mit nationalen Mehrheiten zu verschaffen. Eine weltweite Übereinkunft würde dem Frieden in ungeahntem Maße dienen.“

Völker und Sprachen hat es seit den frühesten Zeiten der Menschheitsgeschichte gegeben, polyethnische - mehrere Völker zusammenfassende - Staaten und Herrschaftssysteme seit Jahrtausenden. Die Polarität zwischen Staat und Volk aber datiert erst aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Mit der Französischen Revolution trat ein neues Legitimitätsprinzip staatlicher Herrschafts Ordnung in die Geschichte, das alte Widersprüche beseitigte und dafür neue schuf, fuhrt Theodor Veiter aus. Bis dahin hatte die Zugehörigkeit zu einem Stand die Position im Staat bestimmt. „Unter den neuen Kriterien der geforderten Identität von Staat und Nation und den demokratischen Prinzipien quantitativer Gleichheit und Mehrheitsentscheidung wurden alle von der Mehrheitsstruktur abweichenden Gruppen in die Rolle von Minderheiten gedrängt. Ein Begriff, den es bis dahin noch nicht gab und der vom Wortsinn und von der neuen Legitimität her auch das Gewicht minderen Rechtes in sich barg.“

Bis in den Ersten Weltkrieg hinein gab es kaum übernationale Vereinbarungen für Nationalitätenkonflikte, einige der Großmächte, darunter auch Österreich, regelten die Rechtsverhältnisse ihrer Minderheiten im internen Bereich.

Der nicht zuletzt unter der Propaganda für das Selbstbestimmungsrecht der im „Völkerkerker“ schmachtenden Nationalitäten geführte Erste Weltkrieg brachte schließlich mit der Bildung neuer Nationalstaaten eine Vielzahl neuer Volksgruppenkonflikte und -Probleme, von denen so gut wie kein Staat in Europa verschont blieb. Von denKata- lanen und Basken in Spanien bis zu den Baltendeutschen in Estland und den Karpatoukrainern in der Tschechoslowakei, von den Lappen in Schweden und den Deutschen in Dänemark bis zu den Südtirolern in Italien und den Griechen in der Türkei - Volksgruppen, Minderheiten überall. Oft genug Anstoß oder mindestens Vorwand beim Ausbruch offener Aggressionen.

Ebenso vielfältig waren auch die Versuche und Bemühungen, dieser Probleme Herr zu werden, von den schon in die Friedensverträge aufgenommenen Schutzklauseln und den im Völkerbund deponierten Erklärungen bis zu den Aussiedlungsaktionen - von den Griechen aus Kleinasien bis zu den Deutschen aus den einstigen Randstaaten - und bis zur Vernichtung der Juden im Dritten Reich.

Mit der Vertreibung aus Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die europäischen Minderheitsfragen nicht erledigt Zur Zeit sind sie, soweit sie blutigen Umfang annehmen, auf Randzonen beschränkt - die Auseinandersetzung zwischen Türken und Griechen auf Zypern, der Bürgerkrieg in Nordirland, Terroraktionen im Baskenland. Das bedeutet nicht, daß alle anderen Minderheitsprobleme gelöst wären. Die Forderungen der Slowenen in Kärnten sind nur ein Punkt unter vielen einer langen europäischen (und außereuropäischen) Traktandenliste. Aber: „Die gegenwärtige Bedeutung der Volksgruppenfragen in Europa und für Europa, das der Welt insgesamt den Nationalstaat und damit den Nationalitätenkonflikt beschert hat, kann nur sein, daß hier in unserm Kontinent auch der entscheidende Schritt zur Überwindung und Bewältigung dieses Problems getan wird: zur Schaffung eines europäischen Nationalitäten- und Volksgruppenrechtes als Vorstufe eines internationalen und als ein wichtiger Beitrag zur globalen Friedenssicherung überhaupt“, betont Theodor Veiter.

„Volksgruppe ist eine erlebte und gelebte Gemeinschaft, gekennzeichnet durch das Leben im Verbände, durch eine Heimat nämlich, dife Heimat der Gruppenangehörigen, das Eingebundensein in die Geschlechterfolge - dies als Volk oder Teil eines Volkes -, die als ethnische Schicksalsgruppe in einem nicht von ihr allein beherrschten Staat oder Gliedstaat sich zur Selbstbehauptung gegenüber einer zahlenmäßigen oder wirkungsmäßigen andersethnischen Mehrheit gezwungen sieht, wenn sie nicht eingeengt werden oder untergehen will“, definiert der Völkerrechtler.

Diesen Volksgruppen mehr zu geben, als das seit dem Ersten Weltkrieg versuchte - meist nur individuell verstandene - Minderheitenrecht, wurde schon in der Schlußakte von Helsinki angebahnt, wo im „Korb I“ die Gewährung der Gleichheit vor dem Gesetz, die Möglichkeit für den tatsächlichen Genuß der Menschenrechte und Grundfreiheiten, im „Korb III“ die Anerkennung der kulturellen Zusammenarbeit verankert wurde.

„Wer heute sich mit dem Nationalitätenkonflikt und seiner Lösung befaßt, muß vor allem von den atavistischen Nationalismen abrücken, wie sie im nationalistischen Frankreich, im teils deutschnationalen, teils österreichnationalen Österreich gegenüber seinen Volksgruppen, im noch immer nicht überwundenen italienischen Nationalismus gegenüber Südtirolern, Slowenen und Vaidotams, im britischen Nationalismus in Nordirland … ihren Ausdruck finden“, fordert Veiter, „und für eine Rechtsordnung tätig werden, in welcher ethnischen Gemeinschaften sowohl Erhal- tungs- wie Entfaltungsschutz gewährleistet wird, dies in einer Weise, die von den legitimierten Repräsentanten dieser Volksgruppen akzeptiert wird.“ Das Südtiroler „Paket“ sei hiefür ein gutes Beispiel. Ein Volksgruppenrecht kann nicht modern, also dem Geist einer wahrhaften demokratischen Rechtsordnung entsprechend sein, wenn die anspruchsberechtigte Volksgruppe ihm im konkreten Fall die Zustimmung verweigert hat - wie es in Kärnten der Fall ist.

Veiters Anliegen seit langer Zeit ist es, dem Begriff des - völkerrechtlich in der UN-Konvention bereits geächteten - „Genocids“, des „Völkermordes“ durch physische Vernichtung, Geburtenverhinderung oder Kinderverschleppung, den Begriff des „Eth- nocids“ gegenüberzustellen — dies wäre die vorsätzlich intendierte Beseitigung einer Volksgruppe in ihrer Sprachsubstanz durch kulturelle Maßnahmen, etwa im Schulbereich. Ein internationales Volksgruppenrecht sollte auch das Ethnocid verbieten.

Der Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheit allein aber reicht noch nicht aus, um Volksgruppen in ihrem Bestand zu erhalten. Auch Staaten freiheitlicher Demokratie, die nur duldendes Nationalitätenrecht kennen, konnten vielfach nicht verhindern, daß Volksgruppen trotz Genusses aller Menschenrechte assimüiert und in ihrem Bestand dezimiert wurden - nicht nur die Slowenen in Kärnten nehmen zahlenmäßig ab, auch den Deutschen in Dänemark, den Flamen in Frankreich, den Rätoromanen in der Schweiz geht es nicht anders. (Vei- ter weicht hier jedoch der Frage aus, ob dem Recht der Volksgruppe auf Erhaltung nicht auch das Recht des einzelnen Angehörigen, sich für die Assimilierung an das Mehrheitsvolk zu entscheiden, gegenübergestellt werden müßte).

Ein internationales Volksgruppenrecht müßte auf den Entfaltungsschutz von Volksgruppen hingeordnet sein, fordert Veiter. Es müßte etwa das Recht auf Unterricht in der Mutterspräche als Unterrichtssprache mit Sicherung der Erlernung der Staatssprache enthalten, dann die kulturelle Förderung der Minderheit und aller entsprechenden Einrichtungen, vor allem aber die Gewährung einer kulturellen oder auch lokalen Autonomie. Wie weit zweisprachige - oder nur in der Sprache der Minderheit gehaltene - Aufschriften mit ihrem Symbolcharakter für die Minderheit notwendig sind, würde für jede Volksgruppe gesondert entschieden werden.

Die Grundsatzerklärung im österreichischen Volksgruppengesetz von 1976 - trotz des erwähnten Schönheitsfehlers der Ablehnung durch die unmittelbar Betroffenen - „scheint sehr viele Anforderungen an ein modernes Volksgruppenrecht zu erfüllen und es wäre begrüßenswert, wenn ähnliche Grundnormen in allen Staaten, in denen es Volksgruppen gibt, erlassen würden, wenn insbesondere auch die noch immer sehr zahlreichen deutschen Volksgruppen in Ostmitteleuropa sich einer solchen Regelung ihrer innerethnischen Beziehungen erfreuen könnten.“

„Das Volksgruppengesetz ist zweifellos in vielem ein großer Fortschritt … Noch steht nicht endgültig fest, welcher Prozentsatz als maßgebend für den Volksgruppenschutzanspruch festgelegt werden wird. Nur für die Anbringung zweisprachiger topographischer Aufschriften und Ortstafeln ist bereits festgelegt, daß solche die Ermittlung von etwa einem Viertel Volksgruppenangehörigen in einem Gebietsteil voraussetzen. Das ist ein viel zu hoher Prozentsatz, davor allem die Slowenen in Streulage leben und durch Germanisierung und Assimilierung in den letzten Jahrzehnten stark an Substanz verloren haben. Der Erhaltungsschutz dürfte daher, um Jahrzehnte zu spät, jetzt gesetzliche Wirklichkeit geworden sein.“

„Maßgebend wird sein“, schließt Veiter seine Analyse, „daß das innerstaatliche wie das internationale Volksgruppenrechtes den Volksgruppen unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips ermöglicht, ihren eigenen way of life zu gehen und vom Staat nur so weit beherrscht und dirigiert zu werden, als für den Staat und die Staatengemeinschaft notwendig ist, im übrigen aber autonom ihr Schicksal zu bestimmen, dies vor allem im kulturell-sprachlichen Bereich und ohne Verschiebung der Grenzen … Ganz allgemein stellt ein modernes Volksgruppenrecht eine der Möglichkeiten der Friedenssicherung in der Welt dar. Mit der Einrichtung einer gewissen Selbstverwaltung und Atonomie zugunsten der heute so oft mit ihren Wohnsitzstaaten und deren Nachbarn in Streit verfangenen ethnischen Gemeinschaften kann ein sehr großer Teil der friedensbedrohenden Erscheinungen aus der Welt geschafft werden. Und überdies werden Kulturwerte der Menschheit erhalten, deren Verlust auch die Menschheit selbst ärmer macht, ja vielleicht geradezu zum Ameisenhaufen verdirbt.“

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