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Modifizierter „Skandinavismus“

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Der große Rausch, den Willy Brandt mit einer rhetorischen Meisterleistung bewirkte, ist allmählich verflogen. Er war so stark, daß sogar die unter SPDlern verschrieene Springer-Presse sich ihm nicht ganz entziehen konnte, nicht einmal „Bild“, der „Erzfeind“ der SPD. Doch nun kehrt allgemach wieder der politische Alltag ein, und der ist einerseits kompliziert, anderseits nüchtern genug, um darüber die Frage zu vergessen, wo denn die SPD nach Hannover wirklich steht. Eine Frage aber, die samt der Antwort gewiß schicksalhafte Bedeutung hat.

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Der große Rausch, den Willy Brandt mit einer rhetorischen Meisterleistung bewirkte, ist allmählich verflogen. Er war so stark, daß sogar die unter SPDlern verschrieene Springer-Presse sich ihm nicht ganz entziehen konnte, nicht einmal „Bild“, der „Erzfeind“ der SPD. Doch nun kehrt allgemach wieder der politische Alltag ein, und der ist einerseits kompliziert, anderseits nüchtern genug, um darüber die Frage zu vergessen, wo denn die SPD nach Hannover wirklich steht. Eine Frage aber, die samt der Antwort gewiß schicksalhafte Bedeutung hat.

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Willy Brandt und mit ihm Werner Schmidt und andere haben in Hannover aufs neue die große, die soziale, die sozialdemokratische, ja, sogar die sozialistische Volkspartei sowohl verteidigt wie kreiert. Verteidigt gegen die nicht laut, aber beharrlich angreifenden „linken Veränderer“, kreiert gerade aber auch für deren profunde und primäre ideologische Vorstellungen.

Man bediente sich dazu, was allgemein übersehen wurde, des Wortlautes des Staatsgrundgesetzes, das

auch den Auftrag enthält, für „soziale Gerechtigkeit“ zu sorgen. Was das ist, ist einerseits Ansichtssache, anderseits durch ideologische Vorbehalte fixiert, jedenfalls aber geradezu „beliebig dehnbar“. Mit Sicherheit ist es für die SPD etwos anderes, als die CDU, die CSU und vielleicht sogar die FDP darunter verstehen. Indem sich Brandt und die SPD auf diesen „grundgesetzlichen Auftrag“ berufen, wird, wenn schon nicht die Verfassung, so doch deren Verständnis entscheidend neu interpretiert. Das heißt, hinkünftig wird man da mit einer sehr extensiven Auffassung zu rechnen haben.

Die Jusos, so stellte sich in Hannover heraus, sind weitgehend in die Partei integriert, deren „mittlere Kader“ sie erfolgreich durchwachsen haben. Freilich gibt es „viele Arten von Jusos“. Doch die beiden hauptsächlichen traten in Hannover deutlich in Erscheinung: die einen sehen sich zusehends durch Karriere und Saturierung „korrumpiert“, sie wachsen, immer weniger aufmüpfig, in das Parteiestablishment hinein, verjüngen es, ohne es auch besonders zu verändern. Die anderen — und dies ist die Mehrheit — etablieren sich als gärendes „linkes Gewissen“ der SPD und wollen es auch bleiben. Das muß nicht einmal etwas Schlechtes sein. Denn gewiß hätten CDU, CSU und wohl auch die FDP es nötig, auch ihrerseits — von der jeweiligen „Parteimitte“ aus gesehen — „linke“, „rechte“ und „liberale“ Gewissen von größerer Anzahl und Wirksamkeit zu haben. Ob durch die starke Verbreitung und Verankerung dieser „linken Gewissensträger“ aber die von Brandt und Wehner angestrebte „Dauerkoalition innerhalb der SPD“ lebendig bleiben kann, ist eine große

Frage. Brandt und Wehner sind in dieser „Koalition“ so etwas wie sozialdemokratische Volksparteiler. Doch sie befinden sich damit nicht in einer Mehrheit: „absolute Linke“ und „demokratische Sozialisten“ (was etwas anderes als „Sozialdemokraten“ ist) machen ihrerseits auch je ein Drittel aus. Zusammengehalten Werdern sie alle durch das Wissen, daß anders die relative Mehrheit nicht zu erhalten wäre, die Aussicht auf eine spätere, absolute dahinschwände, kurz, daß künftig wieder Opposition das schmerzliche Schicksal wäre. Schmerzlich schon deshalb, weil unter solchen Voraussetzungen, wie sie die SPD heute bietet, wohl nicht damit zu rechnen wäre, daß eine künftige SPD-Opposition gleichartig, ja gleich gutartig sich verhalten würde, wie es die frühere, die gegen Adenauer und dessen Nachfolger stand, gehalten hat.

Vorrang für Gesellschaftspolitik

Doch auch das Brandt'sche Konzept einer „linken, volksparteilichen Mitte“ — in welchem die FDP sich mehr und mehr wie ein seltsamer, einigermaßen loyal beweglicher Flügel ausnimmt — lautet anders als es der (beschwichtigende) Name aussagt: diese Volkspartei ist von beachtlicher Progressivität. Es war natürlich Zufall, aber dennoch von beträchtlichem Symbolgehalt, daß just zu Beginn des Parteitages die deutschen Druk-kereien bestreikt wurden; so mußte jedermann — auch der Opposition! — klar vor Augen treten, daß der Weg zur „linken, volksparteilichen Mitte“ von „Sozialkämpfen“ um „Sozialreformen“ gesäumt sein wird, die wiederum von sich aus dazu beitragen müssen, ein „anderes Deutschland“ zu schaffen. Damit ist die schrittweise Abkehr von der „Sozialen Marktwirtschaft“ gemeint. Oder genauer gesagt: der rein marktwirtschaftlich orientierte Teil des Modells soll „planifiziert“ werden zugunsten des (ideologisierten) „sozialen Modellinhaltes“. Längst weiß man in der Mitte der SPD, daß es dazu keiner spektakulären Verstaatlichungen bedarf: wer den Staat beherrscht, hält andere Werkzeuge bereit — solche der Steuerpolitik, der „Demokratisierung vom Grunde auf“, der gewerkschaftlichen Mitsprache und Eigensouveränitäten, der Lastenverteilung auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene und die nicht gering zu achtende Möglichkeit, gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche „Prioritäten“ zu setzen. Umweltschutz, Lebensqualität, Antikon-sumidiotie bieten sich da günstig an, denn es sind vorerst unausgefüllte Begriffe, die nur darauf warten, gesellschaftspolitischen Inhalt zü erhalten.

Nicht einmal die sonst durchaus unwillkommene, ja auch der Regierung gefährliche Inflationsspirale ist da ganz ohne Nebenutzen. Sie höhlt akkumulierte „Widerstandspositionen“ aus. Und sie bewirkt vor allem eines: eine progressive Dezimierung kleiner und mittlerer Selbständiger, somit des „Hauptheeres potentiell bürgerlicher Opposition“. Daß auf der anderen Seite der Akkumuin-tionseffekt wächst, ist nicht so sehr die Sorge der SPD. Immer noch kommen Sozialdemokraten mit einigen wenigen wirklich Großen — siehe Schweden, wo 70 Prozent des industriellen Potentials nahezu in einer Privatbank zusammenfließen! — besser aus, als mit vielen eigensinnigen, wo nicht gar ..kleinbürgerlichen“ Kleinen.

Das neue Problem, welches sich der SPD da stellt, hat sie, Willy Brandt

sagte es nicht nur so nebenbei, längst erkannt: die Akkumulation (Fusion) von Kapital und Industrie im Wege der internationalen und der europäischen Verflechtungen und Integrationen. Indem sich hier „der Staat“ nicht bloß kontrollierend und „abschöpfend“ einschaltet, sondern „ordnend“ und sich wohl letztlich auch beteiligend, wird ein Teil der Aufgabe auf sozialdemokratische Art gelöst. Den anderen Teil will Brandt

— er ist der erste nach Paul Henry Spaak, der das so deutlich aussprach

— auf höherer Ebene bewältigen: durch die „Sozialdemokratisierung der EWG und Europas überhaupt“. Das sind nicht bloß große Worte. In der Tat besinnen sich Sozialdemokraten und demokratische Sozin'i-sten, mitunter darin in effektivem Wettstreit, auf ihre einstige Inter-nationalität. Diese war lange Zeit nur noch ein Lippenbekenntnis. Jetzt wird sie deutlich aktiviert: von Skandinavien über die BRD bis nach Österreich und Italien, nach Frankreich hin und auch nach England. Eine so abgestimmte Außen-, Innen-, Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik — und natürlich noch vieles mehr, auch Bildung, Kultur und Umwelt, Lebensqualität usw.! — mag freilich alsbald „Sachzwänge“ schaffen, die Europa wirklich sozialdemokratisch machen könnten, selbst wenn da und dort eine durchaus nicht sozialdemokratische oder sozialliberale Regierung ans Ruder käme oder am Ruder ist. Sozialdemokraten wie Spaak und Brandt, wohl aber auch Pittermann und Kreisky, gehören zu den ersten dieser Bewegung, die das besser erkannt haben als alle „Bürgerlichen“ zusammen, die in Kohle-und-Stahl-Plänen und deren Pendants und Annexen so lange Zeit die bereits „absolute Erfüllung“ gesehen haben und für die internationale politische Koordination — auch der Ideologien

— bis heute etwas Fremdartiges, ja sogar Bedrückendes geblieben ist.

Brandt rechnet da mit einem zunehmenden, zwanghaften Anstoß der von der Europäischen Sicherheitskonferenz ausgehen könnte. Indem dies Europa dazu zwingen wird, viele Interessen auf jeweils einen Nenner zu bringen, schafft sie wohl auch ein Klima, in welchem der sozialdemokratische Internationalismus besonders gedeihen müßte, um so mehr, als allgemein verständliche oder doch allgemein verbreitete Alternativen noch nicht vorliegen; was darüber in einzelnen Programmen anderer Parteien steht, ist vorerst noch ein „ungehobener Schatz“, von dessen Wert sich nichts sagen läßt.

Daß „Eigentum Diebstahl“ sei, wurde auch in Hannover nicht behauptet. Es geht auch gar nicht mehr um „Eigentum“ — das kleine und kleinste ist unbestritten, das „große Eigentum“ wirft vielmehr die Frage nach der Verfügungsgewalt auf. In Hannover wurden die Positionen deutlich sichtbar: die SPD — und auch die sozial-liberale Koalition — wollen angreifen und greifen an; die „bürgerliche Rechte“, die ernsthaften Verteidiger der „sozialen Marktwirtschaft“ befinden sich in der Defensive. Da es der SPD nicht bloß auf irgendeine ,.sozialere Verfügungsgewalt“ ankommt, sondern am Ende auf eine effektiv sozialistische, afso vergesellschaftlichte, voll demokra-

tisierte (die ja des Steuerungszentrums nie entbehren könnte und das wird der Staat sein und somit diejenigen, welche diesen regieren), wird hier wohl das „stärkste“, wenn auch nicht das „letzte Gefecht“ stattfinden. Doch schon am Beginn der Tat sieht sich die SPD hierbei durch das schon erwähnte „linke Gewissen“ beeindruckt und behindert zugleich.

Was allen klar blieb (von Brandt bis hin zu den ganz linken Parteigenossen) ist dies: alle Vorhaben, die man auch „modifizierten Skandina-vismus“ nennen könnte, selbst dann, wenn Skandinavien und hier vornehmlich Schweden im Augenblick keine klassische Verlockung darstellen, nicht einmal für Sozialdemokraten, wissen alle, daß sie nur „gewinnen“ können, wenn bei den Wahlbürgern „die Kasse stimmt“. Man kann also nicht revolutionär, sondern nur evolutionär vorgehen, und das auch noch so, daß die durch „Wirtschaftswunder“ Verwöhnten die Sache nicht als ein unangemessen kaltes Bad empfinden. Skeptiker in Hannover meinten dazu, dies eben sei die Tragik Brandts, in einem der reichsten Länder der Welt den Sozialismus durchsetzen zu müssen und das mit einem Partner, der FDP, die sich von diesem Reichtum und allenn. was nach ihrer Meinung dazugehört, womöglich keine Scheibe abhandeln lassen will.

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