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Mörder mit Diplomatenpaß
Wenn diese Zeitung den Leser erreicht, ist im Konflikt um das libysche „Volksbüro" in London möglicherweise schon alles entschieden, weil Redaktionsschluß der Ausgabe der 27. April war. Dieser Fall wirft indessen grundsätzliche Fragen über das Völkerrecht auf.
Wenn diese Zeitung den Leser erreicht, ist im Konflikt um das libysche „Volksbüro" in London möglicherweise schon alles entschieden, weil Redaktionsschluß der Ausgabe der 27. April war. Dieser Fall wirft indessen grundsätzliche Fragen über das Völkerrecht auf.
Der Konflikt zwischen Großbritannien und Libyen, der wegen der tödlichen Schüsse aus dem libyschen „Volksbüro" in London ausgebrochen ist, wirft neben politischen auch juristische Probleme auf. Die Grundlage für eine völkerrechtliche Beurteilung liefert vor allem das Wiener Ubereinkommen über diplomatische Beziehungen 1961, dessen Parteien beide Konfliktstaaten sind.
Der Tod der britischen Polizistin begründete die Verantwortlichkeit Libyens nach Völkerrecht — nicht bloß dann, wenn der Schütze ein Organ Libyens, sondern auch, wenn er eine Privatperson war, weil es in diesem Fall das Botschaftspersonal wohl an entsprechender Sorgfalt zur Verhinderung des Waffengebrauchs fehlen ließ.
Handelte es sich bei dem Schützen um einen Diplomaten, waren Großbritannien ihm gegenüber weitgehend die Hände gebunden. Diplomaten genießen nämlich nicht nur erhöhten Schutz und Unverletzlichkeit, dürfen also nicht verhaftet werden, sondern auch absolute Immunität. Sie unterliegen danach zwar der Rechtsordnung des Empfangsstaates, doch darf diese gegen sie nicht vollzogen werden. Der Empfangsstaat kann sie lediglich zu personae non gratae erklären und zum Verlassen seines Gebietes auffordern.
Eine ähnliche Rechtsstellung kommt auch den Räumlichkeiten der diplomatischen Vertretung zu, denen die libyschen „Volksbüros" in der Praxis gleichgestellt werden.
Die „Exterritorialität" des „Volksbüros" bedeutet nicht, daß es sich auf libyschem Territorium befindet. Obwohl es sich um britisches Staatsgebiet handelt, dürfen es Organe Großbritanniens aber nur mit Zustimmung des Missionschefs betreten. Eine Erstürmung des Gebäudes durch die britische Polizei wäre daher völkerrechtswidrig gewesen.
Hingegen durfte die britische Regierung gegen Libyen Repressalien ihrer Wahl ergreifen. Darunter ist an sich völkerrechtswidriges Verhalten zu verstehen, das aber gegen einen vorherigen Völkerrechtsbruch der Gegenseite ausnahmsweise zulässig ist. Allerdings darf die Repressalie vor allem in ihrer Schwere in keinem Mißverhältnis zur Völkerrechtsverletzung stehen, gegen die sie gerichtet ist, und nicht im Einsatz von (Waffen-)Gewalt bestehen.
Großbritannien begnügte sich jedoch mit einer zwar unfreundlichen, aber auf jeden Fall völkerrechtmäßigen Reaktion. Denn jedem Staat steht es frei, jederzeit und ohne Angabe von Gründen die diplomatischen Beziehungen zu einem anderen abzubrechen. Libyen darf diese Maßnahme daher nicht mit Repressalien beantworten und insbesondere nicht Terroristen gegen Großbritannien unterstützen.
Die Verbringung belastender Beweisstücke konnten libysche Diplomaten bei der Ausreise in ihrem persönlichen Gepäck versuchen. Dieses ist zwar grundsätzlich von der Kontrolle durch den Empfangsstaat befreit; bei begründetem Verdacht des Mitführens verbotener Gegenstände darf es jedoch in Gegenwart des Diplomaten oder eines von ihm ermächtigten Vertreters durchsucht werden.
Dagegen ist die Öffnung oder Zurückhaltung des diplomatischen Kuriergepäcks, das freilich nur diplomatische Schriftstücke oder Gegenstände für den amtlichen Gebrauch enthalten darf, unzulässig.
Libyen hat allerdings 1977 bei seinem Beitritt zur „Diplomatenkonvention" einen Vorbehalt erhoben, in dem es die Gleichbehandlung des Kuriergepäcks mit dem Privatgepäck der Diplomaten beansprucht hat. Da die Konvention zwischen den beiden Staaten mit dieser Änderung gilt, könnte die britische Regierung ihrerseits von diesem Sonderrecht Gebrauch machen.
Es steht zu erwarten, daß die Völkerrechtsverletzung Libyens ungesühnt bleiben wird. Großbritannien mußte nämlich bei Ergreifung ihm an sich zustehender Repressalien befürchten, daß Libyen daraufhin mit (auch völkerrechtswidrigen) Maßnahmen gegen britische Staatsangehörige auf seinem Gebiet den Konflikt weiter verschärfen würde.
Daß sich auch weiterhin der Stärkere beziehungsweise Brutalere in den internationalen Beziehungen immer wieder durchsetzt, ist eine betrübliche Tatsache, die vor allem auf das Versagen des Systems kollektiver Sicherheit der Vereinten Nationen infolge der Uneinigkeit der Großmächte im Sicherheitsrat zurückzuführen ist.
Sie sollte aber nicht dazu führen, an der Sonderstellung der Diplomaten zu rütteln. Würde ihre Immunität zum Beispiel auf dienstliche Handlungen beschränkt, könnten skrupellose Staaten gerade in Krisen Diplomaten des Gegners wegen konstruierter Delikte in Haft nehmen und als Geiseln verwenden.
Derartige Risken würden wiederum die Bereitschaft der Staaten verringern, Vertreter ins Ausland zu entsenden, und zu einem bedenklichen Schrumpfen der zwischenstaatlichen Beziehungen und Kommunikation führen, die im Zeitalter der Kernwaffen und in einer auch sonst zunehmend interdependenten Welt dringender denn je geboten sind.
Der Autor ist Ao. Professor für Völkerrecht und Internationale Beziehungen an der Universität Wien.
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