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Moloch einer kalten Metropolis

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La doulce France! Wer hat nicht einmal, wenn er außerhalb des Landes zwischen Rhein, Alpen, Pyrenäen, der Mittelmeer-und der Atlantikküste lebt, davon geträumt, dieses so vielgerühmte Klima, die raffinierte Lebenskunst für kürzere oder längere Zeit zu genießen? Natürlich sind mit dem Begriff „Frankreich“ ebenso viele Klischees verbunden wie mit England, Italien oder jedem anderen beliebigen Staat. Es tauchen die zu Stein gewordenen Träume der Loire-Schlösser auf, die Hotelpaläste der Jahrhundertwende in Cannes und Nizza, von Wellen gepeitschte Felsen am Rande der Bretagne und die Weinstraße des Elsaß an einem milden Herbstnachmittag. Da wird in erster Linie an Paris gedacht, diese faszinierende Stadt mit den weltberühmten Baudenkmälern. Es bedeutet für viele die traumhaft schlanken Mannequins in den Salons von Dior oder Yves Saint-Laurent. Die Sünde soll angeblich an der Place Pigalle üppige Sumpfblüten treiben. Gourmets werden an die Köstlichkeiten der Gastronomie erinnert.

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La doulce France! Wer hat nicht einmal, wenn er außerhalb des Landes zwischen Rhein, Alpen, Pyrenäen, der Mittelmeer-und der Atlantikküste lebt, davon geträumt, dieses so vielgerühmte Klima, die raffinierte Lebenskunst für kürzere oder längere Zeit zu genießen? Natürlich sind mit dem Begriff „Frankreich“ ebenso viele Klischees verbunden wie mit England, Italien oder jedem anderen beliebigen Staat. Es tauchen die zu Stein gewordenen Träume der Loire-Schlösser auf, die Hotelpaläste der Jahrhundertwende in Cannes und Nizza, von Wellen gepeitschte Felsen am Rande der Bretagne und die Weinstraße des Elsaß an einem milden Herbstnachmittag. Da wird in erster Linie an Paris gedacht, diese faszinierende Stadt mit den weltberühmten Baudenkmälern. Es bedeutet für viele die traumhaft schlanken Mannequins in den Salons von Dior oder Yves Saint-Laurent. Die Sünde soll angeblich an der Place Pigalle üppige Sumpfblüten treiben. Gourmets werden an die Köstlichkeiten der Gastronomie erinnert.

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Das gaullistische und nach-gaulli-stische Regime lieben die Feststellung, daß Frankreich seit Jahrhunderten keine solche strukturelle Mutierung erlebt habe wie nach dem 13. Mai 1958. Damals putschten die weißen Siedler und die Armee in Algerien und besiegelten das Ende des überseeischen Imperiunis der , III. und IV. Republik. Der Heros des Zweiten Weltkriegs, Charles de Gaulle, übernahm die Macht und mit diesem Tag setzt — es ist nicht zu bezweifeln — die größte Revolution ein, die Frankreich seit 1789 erlebt hat. Die Männer dieser einmaligen Verwandlung haben die gesellschaftlichen Grundlagen für ein Frankreich gelegt, das vor der gaullistischen Epoche keine grundsätzlichen Änderungen seit dem Wirken der Jakobiner erfahren hatte. Mochten die Politiker aller Schattierungen in ihren Sonntagsreden mit Rührung die Namen Dantons, Robespierres und Saint-Justs beschwören — das Land blieb im Kern bäuerlich und konservativ. Die Prüfungen des Zweiten Weltkriegs haben die sozialen Klassen angeglichen, aber der Sprung in das Elektronenzeitalter wurde erst im Dezennium der zweiten gaullistischen Evolution gemacht. Man wird nicht fehlgehen, wenn man behauptet, daß sich die Bürger der V. Republik erst während der Staatskrise des Mai-Juni 1968 bewußt wurden, daß eine Welt endgültig zugrunde gegangen war. Wie der Historiker von den Jahrhunderten vor und nach Christi Geburt spricht, so kann das moderne Frankreich es sich durchaus erlauben, von einer Zäsur, vor und nach dem Mai 1968, zu reden.

Ein wichtiger Hinweis muß gemacht werden, wenn eine Untersuchung über das gegenwärtige Frankreich einsetzt. Die Unterschiede zwischen der Metropole und den übrigen Regionen haben sich keineswegs verringert. Jeder Reisende wird die Behauptung bestätigt finden, daß Paris noch immer Paris, aber nicht Frankreich ist. Es vergeht kein Jahr, in dem nicht eine der historisch gewachsenen Provinzen nachdrücklich auf kulturelle und wirtschaftliche Autonomie bei selbstverständlicher Respektierung des Gesamtstaates pocht. Wer da eine Enquete im Elsaß durchführt, wie der Verfasser dieser Studie es im Juni dieses Jahres tat, wird bei den Notabein wie beim vielstrapazierten Mann auf der Straße die Sehnsucht vernehmen, lokale Probleme selbst lösen zu dürfen. 1972 krachten die Bomben der Autonomisten in der Bretagne, 1973 brannte es in den Wäldern Korsikas. Das letzte weitsichtige Konzept des bisher größten französischen Staatsmannes dieses Jahrhunderts, Charles de Gaulle, das eine vernünftige Re-gionalisierung in die Wege leiten sollte, wurde bis jetzt nicht realisiert.

Dieser Mangel an Elastizität, das Fehlen von Dynamik im Herzen des Staates führt zu zahlreichen Fehlentscheidungen, aufgeblähten Planungen und horrenden finanziellen Verlusten. Als Einzelbeispiel sei die Affäre des Pariser Zentralschlachthofes La Villette genannt. Da wurde die gigantische Summe von einer Milliarde Francs verschwendet mit dem Resultat, daß mit weiteren hunderten von Millionen Francs dieses Wunderwerk der Technik im kommenden Jahr wegen Unrentabilität abgerissen werden muß. Niemand hat größere Summen in die eigene Tasche geleitet oder sich persönliche Vorteile erschlichen. Das Projekt wurde vielmehr von einem Büro in das nächste balanciert, eine Verantwortung löste die andere solange ab, bis sich niemand als verantwortlich ausweisen konnte.

Das Lieblinigswort des Regimes nennt sich Partizipation und fand seine klassische Formulierung in der „Neuen Gesellschaft“ des ersten Ministerpräsidenten Pompidous, des jetzigen Bürgermeisters von Bordeaux, Chaban-Delmas. Aber die Mitbestimmung des emanzipierten Bürgers steht immer noch auf dem Papier. Die Entscheidungen reifen in okkulten Büros heran. Der Einwohner von Paris hat bisher nicht die geringste Gelegenheit gehabt, die himmelschreiende Verstümmelung des Stadtbildes zu verhindern. Mit Schauern wird der Besucher das Klein-Manhattan begutachten, das hinter dem Are de Triomphe in protzigen Betontürmen entsteht, denen die geringste Spur von Ästhetik mangelt. Als die pittoresken Markthallen, entgegen unzähligen Protesten aus dem In- und Auslande, abgerissen wunden, versprachen die verantwortlichen Städteplaner, die „Tempel des Jahres 2000“ zu konstruieren. Diese problematischen Kunstwerke stellen sich als klobige Steinwürfel dar, in denen der Kommerz des kommenden Jahrzehnts eine „würdige“ Heimstätte findet. Ein weiteres Attentat auf die Schönheit der Stadt bedeutet das Projekt, das zweite Seineufer ebenfalls in eine Sohnellstraße zu verwandeln.

Die Hunderttausende, die an jedem Weekend aus den Mauern der Weltstadt flüchten, sind das lebendige Zeugnis für den Nonsens einer Existenz, die als immer drückender empfunden wird. Auf der einen Seite sucht jeder Pariser krampfhaft nach einem Zweithaus auf dem Lande und benützt jede Gelegenheit, um etwas reinere L/uft zu schlucken, auf der anderen Seite sollen bis Ende dieses Jahrhunderte 15 Millionen Menschen im Großraum Paris zusammengepfercht sein. Seit einiger Zeit ist eine Stadtflucht der jungen Generation zu beobachten. Während die Bauemjugend in besorgniserregendem Ausmaß* die Dörfer verläßt, bilden sich unzählige Kolonien von jungen Leuten, die eine originelle Form der Gemeinschaft suchen, verlassene Höfe ankaufen und sich als Pfadfinder einer besseren Welt fühlen. Die Behörden verfolgen diese Experimente mit sichtlichem Mißtrauen und legen alle nur denkbaren Schwierigkeiten in den Weg. Es wäre vermessen, zu behaupten,daß der Pariser im Jahre des Heils 1973 ein glücklicher Mensch gewesen sei. Aus den zahlreichen Meinungsumfragen — diese Unsitte grassiert auch in Frankreich — ist zu entnehmen, wie sehr sich der Bewohner der Lichterstadt uniglücklich fühlt und Neurosen ausgesetzt ist. Dieses geplagte Wesen zieht sich wie eine Schnecke in seine Wohnung zurück. Kontakte von Freund zu Freund, von Familie zu Familie reißen ab. Die intakte Großfamilie existiert in Paris nicht mehr. Sie ist dagegen weiterhin die Basis des Zusammenlebens in den mittleren und kleineren Städten, wo die gesellschaftlichen Strukturen den Zersetzungserscheinungen standhalten.

Der Stolz Frankreichs war der anerkannte Anspruch des Individuums auf zivile Freiheiten. Die Menschenrechte dienten nicht abstrakten Erklärungen, sondern gehörten zum Bestandteil des politischen Denkens. Haben also diese bürgerlichen Freiheiten Schaden erlitten? Der Staat hat — und dies kann nicht geleugnet werden — in weite Bereiche des Alltags eingegriffen. Wohl besteht die Pressefreiheit, aber das wichtigste Massenmedium, das Fernsehen, unterliegt einem strengen Staatsmonopol. Als der erst vor einem Jahr eingesetzte Generaldirektor, Arthur Conte, dem ORTF einen freien Raum schaffen und die Patronanz der Regierung beschränken wollte, wurde er über Nacht aus seinem Amt gefeuert. Der Senat konnte sich nicht durchsetzen. Die von ihm ernannte Kommission, dazu bestimmt, Angriffe gegen die bürgerlichen Freiheiten zu untersuchen, stößt gegen Gummiwände. So lächerlich der Versuch gewesen sein mag, die Redaktion der satirischen Wochenzeitung „La Ca-nard Enchaine“ mit Mikrophonen zu spicken, so ist er doch symptomatisch für einen Zustand. Gerüchte wollen wissen, daß gewaltige Computer Karten speisen, auf welchen Leben, Dasein, Liebe und Tod jedes Franzosen in Zukunft registriert und kontrolliert werden sollen.

Geht man in das Quartier Latin, glaubt man an gewissen Tagen und Abenden eine belagerte Festung zu betreten. Vor allen Straßenzugängen stationieren die gewaltigen Busse der Eiosatzpolizei.

Das vielgelobte und vielbewunderte Paris zeigt sich noch in Notre-Dame, in den edlen Perspektiven der Champs-Elysees, dem Zuckerhut des Sacre-Coeur in klaren Morgenstunden. Dahinter aber profiliert sich der Moloch einer kalten Metropolis. Nur die große Krise vom Jahresende 1973 deutet darauf hin, daß die Zeit der schrankenlosen Expansion, der unbeherrschten Profitgier und der sozialen Gegensätze zu Ende gehen kann. Aber selbst eine ernste Gewissenserforschung läßt noch nicht die Formen der Zukunft erahnen.

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