6964400-1985_08_09.jpg
Digital In Arbeit

Momentaufnahmen

19451960198020002020

Eva Blums „Beziehungen” erhielteinen der Förderungspreise des Wettbewerbs für christliche Literatur/ Roman der FURCHE und des Verlages Styria, Graz.

19451960198020002020

Eva Blums „Beziehungen” erhielteinen der Förderungspreise des Wettbewerbs für christliche Literatur/ Roman der FURCHE und des Verlages Styria, Graz.

Werbung
Werbung
Werbung

Das Wasserbett wartet, ein alter Pavillon, vier Wannen, Maria ist verzweifelt, nur nicht dableiben, nur zurück auf die Station, hier lauert der Tod, hier hält er seine gichtgelbe Klaue auf, packt gierig die kaputten Menschen wie Fliegen und reißt ihnen die verwundeten Flügel aus, ich will leben, mit der Zukunft sprechen, glücklich sein und lachen, denkt Maria, wie wenn ein Marienkäfer über ihre Haut kriecht, prickelt der Sommerglanz über ihre Arme, das leise Zirpen der lebenshungrigen Grillen treibt den lindernden Hauch weit über die Berge, bis zu ihr herein, der Kot schwimmt im Wasser, kleine ekelerregende Giftballen, bei deren Anblick sich Marias Magen zusammenzieht, sie wartet auf Besuche, beobachtet das Rechteck, durch das die Ablenkung tritt, die Hilfsschwester verhängt mit einem Leintuch die Aussicht, Maria wird operiert, nach sechs Wochen kann sie mit der linken großen Zehe wackeln, die Nerven ticken, das Pendel der Uhr schlägt wieder, sie muß es schaffen.

Die Kulisse hat gewechselt, Maria wurde in ein Rehabilitationszentrum überstellt, junge Menschen in Rollstühlen, wie Maschinenmenschen, ein aufgedrehtes Spielzeug, na komm' schon, die Schwester wird ungeduldig, Maria greift nach dem Bügel, der über ihrem Bett hängt, richtet sich auf, sie soll in den Rollstuhl kommen, der neben dem Bett steht, wie das machen, wie es schaffen, die Beine beim Bett hinunter fallen lassen, die Schwester gibt Anweisungen, wie ein Feldwebel, gerade, stramm, unerbittlich, Punkte flimmern vor Marias Sehnerven, Knallfrösche explodieren im Gehirn, jetzt faßt die rechte Hand die Lehne, krampfhaftes Anklammern, schief in der Luft hängen, hinüberschwingen, kurzes schutzloses Schweben, der Sitz knirscht unter der Last, die Beine wie zwei Stöcke anheben, sie auf die Fußteile stellen, die geborgte Trainingshose reicht nur bis zum Knie.

Maria steht im Barren, die Gipsschienen schützen wie eine Ritterrüstung, die Ameisen kriechen über ihre Schläfen, dabei schwingt draußen der Frost seine Geisel über den Tag, warten mit der Hoffnung im Nacken, die ersten Schritte nach dem Unfall, zwei nach vorne und zwei zurück, die Stimme ihrer Ballettlehrerin, die Spitzen strecken, sie schlägt mit dem Stock nach den Fußspitzen, Pirouetten, Maria wird schwindelig, nach der Stunde sind die Zehen blutig aufgewetzt, die flaumige Watte in den Ballettschuhen ist zusammengedrückt, die Gipsschiene vom linken Bein wird entfernt, aus dem Schutz des Barrens treten, die Gipsschiene weicht einem Eisengitter, der Kreuzzug des 20. Jahrhunderts, lieber stolpern, hinfallen denkt Maria, nur fort damit, draußen liegt Schnee, über Nacht ist das Haus zu einem Kristallpalast erglänzt, aber das Draußen ist fern, so. fern wie Jerusalem.

Der Schnee rinnt vom Dach wie Glasperlenschnüre, der kurze Atem des Windes schwingt wie der Flügelschlag einer Schwalbe, die Zeit ist ein Hauch in der Ewigkeit, Maria ist umhüllt von einem Zustand der Heiterkeit, ein körperloses Erwachen wie schwebende Blätter, Motorengeräusch, neugieriges Hinüberblicken, ein blinzelndes Kitzeln im Rachen, ein Zusammenstoß auf der Luftlinie, der Chauffeur schließt hinter dem blonden Mann im Rollstuhl das Tor.

Est ein langes Jahr war Maria ortgewesen. Nur scheu fällt das Licht zwischen die Mauerzeilen, sonderbar, daß mir die Enge nie aufgefallen ist, der Greißler nimmt seidenwangige Tomaten aus der Steige, füllt sie in eine Tüte, er winkt herüber, auch wieder im Lande, sie wird zum kleinen Mädchen, das die Nase gegen sein Ladenpult drückt, eine Schokobanane möchte ich, die negerschwarze Süßigkeit beschmiert ihre Mundwinkel, aus der Bäckerei lockt knuspriges Brot, das Gasthaus an der Ecke, Maria ist mit der Ziehtochter Edith befreundet, sie trocknen in der Wirtsküche Geschirr ab, Gabeln, Messer, Löffel, Dieselölgestank dringt aus der Garage, goldene Lettern wachsen auf der verrauchten Hauswand; Pension Baltid, die gehört auch schon dem Hausbesitzer, stundenlang war sie als Vorschulkind bei der russischen Hausbesorgerin auf der Holzkiste gesessen, hatte ihren Erzählungen zugehört, der selbstgebackene Guglhupf schmeckt, auf der Krim blüht Oleander, die Frau Wydisch hustet tuberkulös, meine Mutter sagt, sie war Amme beim Professor, er war jiddisch, ein Patient hat ihn erschossen, Armbinden grüßen zackig.

Hinter dem Wagen, der Maria nach Hause gebracht hat, stellen sich andere Autos an, ungeduldiges Warten, lautes Hupen, ich steige ja schon aus, Passantenblicke schwärmen wie ein Heu-schreckenschwarm, das schwere Schmiedeisentor wird zur Falle, Marias Leben hat einen Knick bekommen, ist wie ein verdünnender Ast, der leicht brechen kann.

Gott hat sich Watte in die Ohren gestopft, der lilaleidende Karfreitag fließt durch Fensterritzen, der Sog zieht nach unten, ich bin wie Don Quichotte, der gegen Windmühlen kämpft, der Besuch der Fahrschule wird zum Kreuzgang, ich muß es schaffen, denkt Maria, auf dem halben Weg rasten, in einer Konditorei, die Mutter sagt, wir sind bald da, der große Bruder ist verlorengegangen, wie ein abgerissenes Kalenderblatt, die Prüfungsfragen sitzen in Marias Gehirnwindungen fest, der Beamte drückt den Stempel gegen das Kissen, hier unterschreiben, das zuckerlrosa Amtspapier dient der Uberlebensstrategie, denen ist es egal, ob man verreckt, sagt die Mutter, sie hebt ihre Ersparnisse ab, mühevolles Zusammenhalten endloser Tage, der Notgroschen rinnt in den Abfluß, der Kanal hat ihn verschluckt, die Fürsorge setzt ihr Gebläse in Gang, humpelnde Orgelpfeifen tönen, das Ghetto wartet, ich will nicht, sagt Maria, ich will studieren, ich lasse mich nicht unter lauter Behinderte sperren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung