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Monströse Mostra

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Die ältesten Filmfestspiele der Geschichte, die Internationale Filmkunstschau von Venedig — stets und beharrlich falsch als „Filmbiennale“ bezeichnet, obwohl „biennal“ ja zweijährig bedeutet und Venedig seine Filmfestspiele alljährlich veranstaltet —, sind auch die konsequentesten geblieben: Als im „Revolutionsjahr 1968“ die Filmfestivals arg bedrängt, teilweise sogar abgebrochen wurden (werden mußten) und die völlig ungerechte und nach kommerziellen und politischen Richtlinien vergebenen Preise massiver Kritik ausgesetzt waren, wandelte die Filmschau am Lido ihr Gesicht; die Goldenen und Silbernen Löwen wurden rigoros abgeschafft — und so blieb es auch bis heute, während Cannes und Berlin (im totalitären Moskau hat es selbstverständlich niemals Kritiken und Unzufriedenheiten mit dem Festivalreglement gegeben) nach Verebben der Protestaktionen schnell wieder zu ihren früheren industriellen Methoden zurückkehrten.

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Die ältesten Filmfestspiele der Geschichte, die Internationale Filmkunstschau von Venedig — stets und beharrlich falsch als „Filmbiennale“ bezeichnet, obwohl „biennal“ ja zweijährig bedeutet und Venedig seine Filmfestspiele alljährlich veranstaltet —, sind auch die konsequentesten geblieben: Als im „Revolutionsjahr 1968“ die Filmfestivals arg bedrängt, teilweise sogar abgebrochen wurden (werden mußten) und die völlig ungerechte und nach kommerziellen und politischen Richtlinien vergebenen Preise massiver Kritik ausgesetzt waren, wandelte die Filmschau am Lido ihr Gesicht; die Goldenen und Silbernen Löwen wurden rigoros abgeschafft — und so blieb es auch bis heute, während Cannes und Berlin (im totalitären Moskau hat es selbstverständlich niemals Kritiken und Unzufriedenheiten mit dem Festivalreglement gegeben) nach Verebben der Protestaktionen schnell wieder zu ihren früheren industriellen Methoden zurückkehrten.

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Nicht nur das: Während Cannes wieder das wurde, was es früher war, der Treffpunkt von Stars, skandalhungrigen Starletts, Adabeis und Tratschkolumnisten von Boulevardblättern, und Berlin seiner politischen Bedeutung, im kalten Krieg Vorposten zu sein, in der Ermüdung der Gewöhnung entkleidet, nur noch mit internen Generationsproblemen herumstreitet, arbeitet die Mostra Cinematografica di Venezia unermüdlich an neuen Rezeptflndungen, wie man den im Lauf der Jahre und durch überzahlreiche Veranstaltungen ähnlicher Art stark verblichenen Glanz und die Bedeutung von Filmkunstwettbewerben neu aufpolieren könne. Direktoren werden fast alljährlich gewechselt, neue Ideen tauchen auf und verblüffen, ja verwirren die langjährigen treuen Venedigbesucher ...

In diesem Jahr hatten zum Beispiel die Verantwortliehen für die Filmschaugestaltung die zwar überaus originell klingende, doch im Endergebnis sich als totales Fiasko erweisende Vorstellung, daß ein Filmfestival wie Venedig, das kaum genügend künstlerisch bedeutsame Filme zusammenbringen könne, das also auf jeden „Wettbewerbscharakter“ verzichten müsse, an dessen Stelle aber etwas „Besonderes“ zu setzen habe; und das sei die „totale Information“, also möglichst viele Filme aus möglichst vielen, auch völlig unbekannten (und auch filmisch unbedeutenden) Ländern zu zeigen — egal, ob die schon irgendwo uraufgeführt, gezeigt oder an anderen Filmwettbewerben teilgenommen haben — um so einen Überblick über das gegenwärtige Filmschaffen zu bekommen.

Diese Überlegung erwies sich letzten Endes als völlig falsch. Was soll etwa der bisher erste und einzige in Jamaika gedrehte Spielfilm „The Härder They Come“ wirklich über die Filmsituation des Landes aussagen? Nichts — er ist als Kuriosum zu betrachten, wie etwa Österreichs „Von Stufe zu Stufe“, nicht mehr und nicht weniger... Und weiter erweist sich die trügerische Komplexität des modischen Schlagwortes von einer „totalen Information“ wie die aller solcher progressiv-attraktiv-faszinierender Slogans angesichts der Frage, wie man sich total informieren soll, wenn innerhalb von 13 Tagen mit maximal 24 Stunden Vorführdauer (selbst im unmöglichabnormen Fall einer „totalen Projektion“) mehr als 300 Filme auf dem Programm stehen — mit den Filmen der beiden Retrospektiven und der jugoslawischen Dokumentarfilmschau? Bedeutet hier Information tatsächlich soviel wie „Oberflächlichkeit“? Heißt das, daß es genügt, wenn man 20 Minuten in einem Film verweilt, dann für eine weitere halbe Stunde den nächsten, in einer Parallelprojektion laufenden frequentiert, schließlich für eine kurze Zeitspanne in den nächsten Vorführsaal hinüberwechselt — daß man dann eine „totale Information“ gewonnen hat?

Keinem einzigen der mehr als 700 anwesenden Journalisten war es selbst bei fleißigster und unermüdlichster, bis zur „Selbstaufgabe“ gesteigerter Besuchsfrequenz möglich, alles zu sehen oder nur eine einigermaßen komplexe „Information“ zu gewinnen. Das Endergebnis war logischerweise folgendes: Daß jeder je nach Interesse oder Aufgabe eben das Besuchte, wovon er sich etwas erhoffte oder was er für seine Arbeit brauchte: entweder die aus täglich zwei Filmen bestehende Hauptveranstaltung (den früheren „Wettbewerb“), daneben noch die beiden Nachmittagsretrospektiven — wovon in einer das Gesamtwerk von Mae West (anläßlich ihres 80. Geburtstages am 17. August d. J.) ein ebenso hinreißendes wie fllmhistorisch, das heißt was die Geschichte des Vamps, und der Erotik im Film betrifft, aufschlußreiches Erlebnis, in der anderen „II tutto Chaplin“) also zum erstenmal überhaupt innerhalb von zwei Wochen das komplette Oeuvre Charles Chaplins (bestehend aus 63 Kurzfilmen und zehn abendfüllenden — wobei auf Wunsch Chaplins sein „A Woman of Paris“ und drei weitere Filme, an deren Neuschnitt er gerade beschäftigt ist, nicht gezeigt wurden) zur Aufführung gelangte — sowie vormittags dieVer-anstaltung „Venezia critici“ um 9 Uhr und um 11 Uhr die Reihe „Venezia giovani“ zu sehen — oder in Stichproben das eben genannte Programm mit noch zusätzlichen Vorführungen aus den Reihen „Cinema Italiano e stampa estera“, „Docu-menti del nostro tempo“, „Informa-tiva critici“ und der 23. „Mostra Internazionale del documentario“ und der Retrospektivreihe „II documentario Jugoslavo“ zu vermischen. An Stelle einer totalen Information wohl eher eine totale Konfusion, vor deren Wiederholung im nächsten Mostra-Jahr dringlichst gewarnt werden muß!

So klaubte man sich also die Rosinen aus dem übermäßig gequollenen Kuchen — der in erster Linie aus den Retrospektivveranstaltungen bestand sowie aus einigen wenigen überdurchschnittlichen Filmen, Werken, aus denen vor 1965 das Hauptkontingent der Filmkunstschau am Lido zu bestehen pflegte: so etwa der genial-intellektuell durchdachte Streifen gegen (oder für?) die Gewalt, Stanley Kubricks „A Clockwork Orange“, womit Venedig ein Versäumnis der anderen Festivals nachholte, oder die überraschend gelungene, stellenweise fast „Felliniani-sche“ Musicalvision „Cabaret“ von Bob Fosse, in der neben faszinierenden optisch-choreographischen Einfällen, einer alptraumartigen Beschwörung deutschnationalen Patriotismus, vor allem die ausgezeichnete Darstellerleistung von Helmut Griem und Fritz Wepper, das überschäumende Schauspieltalent Liza Minel-lis (die in ihren Liedern allerdings etwas zu sehr als Kopie ihrer unübertroffenen Mutter eingesetzt wird) und die oscarreife, dämonische Gestaltung des „Conferenciers“ durch Joel Grey als absoluter Höhepunkt des Films festgehalten zu werden verdient.

Zu den wenigen Lichtblicken der monströsen Filmmostra zählte auch eine nachmitternächtliche Vorführung (vor leerer Freiluftarena) der ostdeutsch-sowjetischen Feuchtwan-ger-Romanverfilmung „Goya“ als faszinierendes Geschichtsporträt eines zu „politischem Bewußtsein erwachenden Künstlers“, in der Konrad Wolf nicht nur die Entwicklung des spanischen Malers erstaunlich milieugetreu und psychologisch überzeugend wiederzugeben verstand, sondern vor allem auch farbgestalterisch Ton und Stil der Werke Goyas in detaillierster Echtheit (wie seit Hustons „Moulin Rouge“ nicht mehr erreicht) nachzeichnete.

Das englische und amerikanische Programm war überhaupt das beste der diesjährigen Mostra: Harold Beckers „The Ragman's Daughter“ (nach Sillitoe) war nicht weniger überzeugend als Ken Russells erstaunlich dezentes, dafür aber maßlos hektisch-dynamisches Künstlerporträt „Savage Messiah“ oder Bill Douglas' autobiographischer Film „My Childhood“, während Michael Ritchies „The Candidate“ ebenso wie Frank Perrys „Play It as It Lays“ und Larry Peerces Schülerdrama „A Separate Peace“ beste, handwerklich perfekte Hollywoodroutine verrieten; Italien war eigentlich abwesend und alle großen Regisseurnamen fehlten — und Carmelo Benes Schaumschlägerei „Salome“ (mit Musik von Schubert, Puccini, Richard Strauss — aber nicht„Salome“, sondern „Der Rosenkavalier“! — und Robert Stolz) war eine unerträgliche Harlekinade, mit der dieser PseudoDali Italiens vielleicht eine Viertelstunde lang seine Anhänger unterhalten hätte können, aber auf eineinhalb Stunden zerdehnt und stets sich wiederholend nicht mehr schockierte, sondern nur noch langweilte und verärgerte.

Auch über Frankreich gibt es nichts zu berichten: während die großen Regisseure wie Clair, Clouzot und Carne am Lido weilten, fehlten die „Namen“ bei den wenigen und unbedeutenden Filmen vollkommen — und Marguerite Duras Regiedebüt war eine unerträglich statisch-unfll-mische intellektuelle Plauderstunde ohne Dialog, „Nathalie Granger“ sei besser verschwiegen — ebenso wie das geradezu lächerlich pathetischbürgerliche sowjetische Monsterprogramm an einem Tag, in dem ebenso altmodische wie verlogen-spießerhafte Themen über heldenhafte Kriegstaten, Stachanowisten und grüblerische Sowjetmenschen Schaudern über sozialistisch ungeschulte Rücken laufen ließen ...

Zum Schluß sei noch erwähnt, daß auch Österreich in diesem Jahr in Venedig vertreten war — und gar nicht so schlecht; neben dem sehr attraktiven Wintersportreklamefilm „Ski 2000 — Made in Austria“ lief noch — am letzten Tag, schlecht placiert und von sehr wenigen Journalisten mehr gesehen, unter dem Titel „Rifiuto“ (Die Verweigerung) ein ge-s'taltungsmäßig beachtlicher (und auch sehr gut aufgenommener) Fernsehfilm, hinter dem sich „Der Fall Jägerstätter“ verbarg. Abgesehen von dem etwas befremdlichen Gedanken und der für die Zukunft beängstigenden Möglichkeit, daß immer mehr bei künftigen Filmfestspielen TV-Produktionen als „Kinofilme“ laufen könnten (wer weiß schon in fremden Landen...?), sollen wir immerhin froh sein, daß die Wahl auf diesen und nicht einen anderen unserer fleißigen „Patschenkino“-Fabrikanten fiel, mehr noch, wir können fast stolz sein — erhielt er doch von der O.C.I.C als einziger Film (!) eine lobende Erwähnung... Nur: für die anwesenden Journalisten gab es über diesen Film nicht eine einzige gedruckte Unterlage, keinen Hinweis, kein Material, keinerlei Reklame. Dummheit oder Ignoranz der zuständigen Stellen? Beides ist gleichermaßen verwerflich...

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