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Moral verkünden ist leicht

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Der Verfasser, Psychologe und Theologe, wendet sich in diesem Buch gegen die traditionelle kirchliche Moral, weil sie den Sinngehalt der Sexualität ausschließlich in der Fortpflanzung sah; aber auch die neuere Auffassung, die auch den Ausdruck der Liebe als Sinngehalt bestimmt, genügt ihm nicht. Die menschliche Sexualität habe auch einen Eigengehalt, der nun hier zu entwickeln versucht wird. Er kommt in anthropologischen Werten wie Gesundheit, Entspannung, Ansporn zu geistiger Leistung, Ermöglichung der Ich-Begegnung, Glück, Verbindung mit dem Du zum Ausdruck. Nicht notwendig müßten im sexuellen Verhalten mit dem Eigengehalt immer auch die anderen Sinngehalte verwirklicht werden. Je nach der Lebensphase und sozialen Situation hätten die Gehalte ihre eigene Bedeutsamkeit. In der Pubertät vermittelt demnach die Selbstbefriedigung die Erfahrung der eigenen Sexualität; vorehelicher Geschlechtsverkehr ermöglicht die Partnerbeziehung und kann Ausdruck der Liebe sein, ohne daß Fortpflanzung intendiert sein soll. Und so können auch außerehelicher Geschlechtsverkehr, Homosexualität, Alterssexualität und andere Formen ihre Legitimität bekommen.

Grundansatz für diese Auffassung ist die Integrierung der menschlichen Sexualität in die Gesamtpersönlichkeit. Ell wendet sich radikal gegen jede Leibfeindlichkeit, wie sie etwa in der Erziehung zur Enthaltsamkeit zum Ausdruck komme.

Die inhaltlichen Konsequenzen dieser Moral sind nicht schon allein deshalb fragwürdig, weil sie einer traditionellen Moral entgegengesetzt sind. Die entscheidende Frage, die hier gestellt werden muß, ist die nach der Tragfähigkeit der Prinzipien dieser Moral. Es ist sicher notwendig, eine Sachgesetzlichkeit zu entwickeln und den Eigengehalt der menschlichen Sexualität im Entwurf einer Moral zu berücksichtigen. Problematisch wird der Versuch aber, wenn die Sinngehalte zwar nicht geleugnet, wohl aber methodisch und vor allem für die Praxis vom Eigengehalt getrennt werden. Damit sind die biologischen und psychologischen Tatsachen zu Grundlagen der Moral gemacht.

Bei den Moralphilosophen ist jedoch schon seit Jahrhunderten unumstritten, daß sich aus dem Sein nicht unmittelbar ein Sollen ableiten läßt.

Ein solch unmittelbares Verhältnis zwischen den Eigengesetzlichkeiten der Sexualität und dem Sollen wird hier zugrundegelegt, wenn auch nicht explizit.

Nur so etwa ist die moralische Wertung zu verstehen, daß Selbstbefriedigung (wenn auch sinnarm) „immerhin besser ist als sexuelle Enthaltsamkeit“ (S. 154). Ein Kriterium für dieses moralische Urteil wird nicht angegeben.

Damit bestimmt der Sexualtrieb im Grunde die Verwirklichung der Sexualität nach dem Prinzip der Triebbefriedigung; denn Enthaltsamkeit bedingt nach Meinung des Verfassers zwangsläufig Neurosen. Für menschliche Freiheit ist da kaum mehr Platz. Dies wird besonders deutlich bei den pädagogischen Hinweisen des Autors. Das Argument, daß auch Sexualität (nicht im Sinne von Techniken!) kultiviert und in die Charaktererziehung einbezogen werden soll, ist ihm nur Ausdruck der Leibfeindlichkeit. Es gebe im Leben junger Menschen andere Gebiete, auf denen die Übung des Willens und Charakterschulung ungleich wichtiger und zugleich weniger gefährlich (!) sei. Mit dem Hinweis auf die Neurosen heißt es: „Darum darf man die Willenserziehung — wenn man sie überhaupt für notwendig hält — auf diesem Gebiet (der Sexualität) nicht riskieren“ (S. 119). Damit aber wird diese Sexualmoral genau das, was der Autor der traditionellen Moral mehr in Polemik als sachlicher Auseinandersetzung vorwirft: eine Sondermoral, nur mit entgegengesetztem Vorzeichen.

Diese Moral wird insofern dynamisch genannt, als ' sie den Menschen als geschichtliche, entwicklungsfähige Person in Rechnung stellen will. Es scheint aber fraglich, ob der Begriff hier tatsächlich zutrifft, denn die Entwicklung wird in Phasen (es heißt sogar Stationen!) und die Sexualität in Einzelakte aufgespalten. Da einzelnen Phasen bestimmte sexuelle Verhaltensweisen zugewiesen und diese dann ethisch gerechtfertigt werden, kann man hier eigentlich nur von einer Aktmoral sprechen, und der Begriff „dynamisch“ wird zum leeren Etikett. Immer wieder wird zugleich auf das sexuelle Verhalten in der sozialen Wirklichkeit verwiesen; darin dokumentiere sich, daß die traditionelle Moral die Menschen nicht mehr überzeuge. Aber man darf es sich nicht so einfach machen wie Ell, der im Hinblick auf polygame und homophile Eheformen und Gruppenehen sagt: „Die Aufgabe der nächsten Zukunft wird es sein, diese schon jetzt vorhandenen Formen des menschlichen Zusammenlebens zu legitimieren“ (S. 212). Eine solche Moral gerät in den Verdacht, zu einer bloßen Rechtfertigung des Faktischen zu geraten. Damit ist dann eigentlich der Sollensanspruch aufgegeben, Maßstab ist das menschliche Tun und Versagen.

Diese Sicht ist wohl mitbedingt durch die berufliche Erfahrung des Autors als Direktor einer Erziehungsberatungsstelle. Er hat mit Menschen zu tun, die nicht weiterwissen und von ihm Hilfe erwarten. Das Anliegen, zu helfen, wird dem Verfasser nicht abgesprochen. Doch der hier vorgelegte Entwurf einer Sexualmoral ist insofern ungenügend, als seine Prinzipien nicht tragfähig sind. Polemik, Pauschalurteile, unklare Verwendung von 3egriffen und unsachliche Auseinandersetzung mit anderen Positionen, die sich leider an vielen Stellen finden, können keine Begründung einer Sexualmoral ersetzen. „Moral verkünden ist leicht, Moral begründen schwer.“ Dieser Satz Schopenhauers, den der Autor selbst zitiert, ist ein treffender Kurzkommentar zu diesem Buch.

„DYNAMISCHE SEXUALMORAL: Psychologische Grundlagen, Moraltheologische Folgerungen, Praktische Auswirkungen“, von Ernst Ell. Benziger Verlag Zürich, Einsiedeln, Köln; 230 Seiten, broschiert, DM 19.80.

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