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Mord in denWolken

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Was die freie Welt als wohlkalkulierten Mord an 269 Insassen des südkoreanischen Passagierflugzeuges am 1. September über der fernöstlichen sowjetischen Halbinsel Sachalin nennt, ist im Sprachgebrauch des Urhebers „Abbruch des Fluges“ nicht einer Zivilflugmaschine, sondern eines Spionageaufklärers.

Selbst Politbüromitglied Andrej Gromyko, in Madrid auf der Anklagebank im Gericht der Weltmeinung,

bleibt bei dieser euphemischen Umschreibung eines schrecklichen Tatbestandes. Auch der dienstälteste Außenminister der Welt denkt ebensowenig wie die Kollegen der Sowjetführung und ihre Informationsorgane an das Eingeständnis schwerster moralischer Schuld. Nur das Bewußtsein, einen taktischen Fehler begangen zu haben, ist bestenfalls aus den bisherigen öffentlichen Stellungnahmen herauszulesen.

Die Genealogie sowjetischer Enthüllung ist so schleppend und zö- gtifiid1 AruiAWilc Jer Rceht

fertigung sowie Versuche, den angeblichen Provokateuren im Weißen Haus den Schwarzen Peter zuzuschieben, fadenscheinig sind. Erst unter dem Druck weltweiter Entrüstung - darunter auch westlicher kommunistischer Parteien - läßt sich die sowjetische Information das Zugeständnis einer eigenen Version der Katastrophe abringen.

Am Tag des Abschusses verschweigt die amtliche Nachrichtenagentur TASS jegliche Art von Attacke auf ein unidentifiziertes Flugzeug und beläßt es bei der lakonischen Feststellung: „Die eindringende Maschine reagierte nicht auf die Signale sowjetischer Jäger und setzte den Flug Richtung Japan fort.“

Einen Tag später verliest der Nachrichtensprecher der größten TV-In- formationssendung eine offizielle Erklärung, in der von sowjetischen Jägern die Rede ist, die versucht hätten, mit einem ausländischen Flugzeug „Kontakt durch allgemein gültige Signale aufzunehmen und es zur Landung auf dem nächstliegenden Flugfeld auf sowjetischem Territorium zu bewegen. Doch das eindringende Flugzeug ignorierte das alles“. Nach zehn Minuten sei der Eindringling wieder dem Blickfeld der lokalen Beobachterstation entschwunden.

Am Tag drei, Samstag, geht TASS zur Offensive über und identifiziert die Boeing 747: „Washington verdeckt fieberhaft die Spuren der Provokation gegen die Sowjetunion durch ein südkoreanisches Flugzeug, das aus den’USA abgeflogen war und in sowjetischen Luftraum eingedrungen ist.“

Tags darauf erklärt der Stabschef der sowjetischen Luftverteidigung, Semjon Romanow, das KAL-Flug- zeug hätte nicht auf international anerkannte Kommandos geantwortet: „Der Pilot unseres Abfangjägers feuerte Warnschüsse und Leuchtspurgeschosse …“ Am Montag fügt TASS hinzu: „Das Flugzeug flog ohne Lichter, und seine Umrisse sind einem US-amerikanischen Aufklärungsflugzeug vom Typ RC-135 sehr ähnlich.“

Erst am 6. September das erste Eingeständnis des Abschusses: „Das einfliegende Flugzeug befolgte nicht die Kommandos zur Landung auf einem sowjetischen Flughafen, versuchte vielmehr, der Verfolgung des Abfangjägers zu entkommen, das den Befehl der regionalen Befehlszentrale erfüllte, den Flug abzubrechen.“

Sowjetische Information, bis ins kleinste Detail den Parteianweisungen ausgeliefert, bietet in ihrer erbärmlichen Kärglichkeit nicht den geringsten Hinweis, wer den Abschußbefehl gegeben hat und welche Motive im Spiel waren. Ein entscheidender Faktor liegt auf der Hand: die panische, ja paranoide Angst der Sowjets, sich in die militärischen Karten blicken zu lassen, speziell über einem der sensibelsten militärischen Gebiete des Landes.

In Kamtschatka ist die antiballistische Radarverteidigung postiert, dort liegt die größte Konzentration von atombetriebenen U-Booten. Sachalin ist Standort der Jägergeschwader, und die Streitkräfte auf den Kurileninseln wurden in den letzten Jahren schwerstens bewaffnet.

Seit Jahren warnt der Kreml vor Versuchen, den Luftraum in diesem Sperrgebiet zu verletzen. Das Dekret des Obersten Sowjets vom letzten Dezember berechtigt zum bewaffneten Gegenschlag auch gegen zivile Flugzeuge. Nicht von ungefähr ist die sowjetische Luftabwehr jene Waffengattung, die vor der eigentlichen Luftwaffe rangiert und als die beste der Welt eingeschätzt wird.

Daß dieser optimale militärische Sektor nicht zwischen einer Passagiermaschine und einem Aufklärer zu unterscheiden vermag, ist nichts anderes als ein Treppenwitz der Sowjetpropaganda.

Die letzte öffentliche Verlautbarung spricht von der regionalen Zentrale des Fernen Ostens, der Abschußbefehl kann also sehr wohl auf eigene Faust vęm Oberkommandierenden der Luftabwehr in der Region Kamtschatka/Sachalin, General Go- worow, gegeben worden sein. Wahrscheinlicher ist die Fortsetzung der Befehlskette nach Moskau zu Marschall Koldunow, dem Kommandierenden der sowjetischen Luftverteidigung, und Marschall Kutachow, dem Luftwaffenchef, wenn nicht gar Stabschef Ogarkow oder Verteidigungsminister Ustinow selbst.

Die Zeitspanne vom Eintritt des koreanischen Flugzeuges in den sowjetischen Hoheitsraum bis zum Abschuß ist mit mehr als zwei Stunden lang genug und ausreichend, die militärische und politische Führung auch in den frühen Morgenstunden zu informieren und deren Befehle entgegenzunehmen. Die Frage, ob der in Kaukasien in den Ferien weüende KPdSU-Chef Andropow selbst den Schußbefehl erteilt hat, bleibt wie so viele Probleme im Zusammenhang mit der Affäre unklar.

Vieles spricht dagegen, so die geplante Stationierung von Pershing- Raketen und Marschflugkörpern, die nach diesem Vorfall wahrscheinlicher geworden ist, obwohl Andropow zuletzt wieder mit Zugeständnissen geködert hat. US-Präsident Ronald Reagan braucht nun mit Sicherheit nicht mehr auf die Zustimmung des Kongresses zur Aufstellung der MX-Raketen zu warten; gar nicht zu reden von der aufgebrachten Weltmeinung besonders in der Dritten Welt, die dadurch den letzten Funken von Glauben an die sowjetischen Friedensbeteuerungen verloren hat.

Am ehesten läßt sich aus diesem Vorfall ein Antagonismus zwischen Partei- und militärischer Führung herauslesen. Der Mord in den Wolken könnte ein Akt gewesen sein, der allein auf das Konto der Generäle geht, um Andropow die Entspannungssuppe zu versalzen.

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