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Digital In Arbeit

Mord zur Jause

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Viele Familien machen das Fernsehprogramm für vermehrte Aggressionen ihrer Kinder verantwortlich -aber die Familie kann auch zur Verarbeitung von Medienerlebnissen beitragen.

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Viele Familien machen das Fernsehprogramm für vermehrte Aggressionen ihrer Kinder verantwortlich -aber die Familie kann auch zur Verarbeitung von Medienerlebnissen beitragen.

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Lehrern und Kindergärtnerinnen ist die Szene längst vertraut: Im Laufe des Vormittags berichten die Kinder einander die eindrucksvollsten Szenen aus dem Fernsehprogramm des letzten Abends. Im Spiel tauchen Personen, Handlungsfetzen und verschiedenste Versatzstücke aus den gerade aktuellen Serien auf. Als im vergangenen Jahr der „Knight Rider“ mit seinem denkenden und sprechenden Auto KITT über die Scheibe flimmerte, war ein vorläufiger Höhepunkt erreicht. Mehr als die Hälfte aller Kinder Österreichs zwischen vier und vierzehn Jahren verfolgten regelmäßig seine Abenteuer.

Wer täglich erlebt, wie das TV-Programm im Reden und Spielen der Kinder seinen Niederschlag findet, der ist von schädlichen Auswirkungen des Medienkonsums rasch überzeugt. Im vergangenen Sommer starteten Kinderorganisationen, Elterninitiativen und -vereine mit großem Echo Unterschriftenaktionen mit der Forderung, die Gewalt vom Bildschirm zu verbannen. Zunächst reagierte der ORF ungeschickt und antwortete bloß immer wieder, daß das Kinderprogramm um 18 Uhr ende und alles weitere eben in der Verantwortung der Eltern läge. Doch das beruhigte natürlich die Diskussion keineswegs, wurden doch gleichzeitig die Infratestzahlen veröffentlicht, die zeigten, daß eine Mehrheit der Kinder ganz selbstverständlich zu den Sehern des Vorabendprogramms gehört.

Schließlich reagierte der ORF doch. Die Vorabendserien sind heuer — bisher — relativ frei von deutlichen Gewaltdarstellungen, und außerdem wurde das Thema im Rahmen der Linzer Mediengespräche aufgegriffen.

Dazu hatte der ORF auch alle jene eingeladen, die sich in den letzten Monaten gegen Gewalt im Fernsehen engagiert hatten. Was alle, die sich mit der Thematik schon näher beschäftigt hatten, längst wußten, wurde auch den engagierten Laien bald klar: So einfach ist das Problem wahrlich nicht. Nach jahrzehntelangen Forschungen kann die Wissenschaft bis heute letztlich keine allgemeinen Auswirkungen von Gewaltdarstellungen auf Kinder nachweisen.

Michael Charlton, Freiburg, betonte in Linz, daß das soziale Umfeld, in dem Kinder Medien nutzen, keinesfalls unberücksichtigt bleiben darf, da soziale Erfahrungen die Verarbeitung von Medienerlebnissen entscheidend mitbestimmen. Vom sozialen Verständnis des Kindes ist auch abhängig, wieweit es die Legitimationsformen von Gewalt in einer Filmhandlung verstehen kann, wie weit also diese Geschichte für es eine „Moral“ hat.

Schon kleine Kinder verfügen über verschiedene Strategien, um sich vor bedrohlichen Medieninhalten zu schützen (zum Beispiel spielen, reden, weggehen und so weiter). Vor allem das Spiel ist eine Form der Auseinandersetzung mit den Medien. Mit Abenteuergeschichten können Kinder iden-titätsfördernde Erfahrungen machen. Gewalt kann dabei zur Chiffre für undramatischere eigene Erfahrungen werden, sie dient als unrealistischer Vergleichsmaßstab. Im Film findet das Kind Allegorien auf eigene Lebenssituationen, auf eigene Erfahrungen von Ohnmacht und Stärke, Zuneigung und Haß, Unsicherheit und Gewißheit. Kinder benutzen Medien also zur Auseinandersetzung mit sich selbst.

So zeigt sich, daß anscheinend bei Kindern aus intakten Familien Filme mit Gewaltdarstellungen keine vermehrte Aggression auslösen. Und es sind jene Kinder, die im alltäglichen Umgang Gewalt erleben und selbst ausüben— mehr raufen und so weiter -, die auch solche Filme bevorzugen. Andererseits gibt es eine aggres-sionssteigernde Wirkung bei einer kleinen Gruppe von Kindern. Doch welche Kinder „verwundbar“ sind, ist nicht ausreichend bestimmbar. Michael Charlton hielt zusammenfassend fest, daß Kinder Kreativität und Vielfalt der Szenarien brauchen, da zum immer gleichen Ritual erstarrte Formen eine Entwicklung in der Auseinandersetzungnicht ermöglichen. Die Logik der Situation und des Handems muß dabei begründet und für Kinder verstehbar sein, wobei sowohl Konflikt-verniedlichung als auch Gewaltverherrlichung zu vermeiden seien. Diesbezüglich müsse der Programmanbieter verantwortlich auswählen. Besondere Bedeutung habe aber in jedem Fall die Familie, in der die Kinder bei ihren Erfahrungen — und dabei besonders jenen mit Medien — die entsprechende Begleitung brauchen.

Auch Erwin Ringel bestätigte diese Perspektive. Da Gewalt eine Tatsache sei, könne und dürfe man sie nicht aus dem TV-Programm ausklammern und verdrängen. Auch Ringel hielt fest, daß jeder Mensch eben anders reagiere, und betonte erneut die besondere Bedeutung der familiären Bedingungen für die Entwicklung des Kindes und seine Fähigkeit, mit Aggression umzugehen. Er trat dafür ein, Gewaltdarstellungen im TV geringzuhalten und jede sensationsgierige Darstellung sowie hemmungslose Gewalt auf der „guten“ Seite zu vermeiden.

Nur mühsam fand die allgemeine Diskussion aus den gegenseitigen Schuldzuweisungen heraus. Daß alle Beteiligten Verantwortung tragen, ist als Grundforderung leicht zu akzeptieren, doch das Problem steckt in der Konkretisierung. Von einer gesetzlichen Regelung erwartete sich dabei niemand eine Lösung.

Intendant Emst Wolfram Marboe sagte: „Wenn ich zwischen Zensur und Freiheit wählen muß, wähle ich die Freiheit, auch wenn sie Nachteile mit sich bringt.“ Er kündigte ORF-interne neue Richtlinien zum Problemkreis Gewalt an, ohne jedoch näher darauf einzugehen. Für die Elternseite sind Nachmittagsprogramm und Vorabendserien wohl die sensibelsten Bereiche. Trautl Brandstaller (Abteilung „Jugend, Gesellschaft, Familie“) und Haide Tenner (Abteilung „Film, Serien“) versicherten glaubwürdig, daß sie sich hier ihrer besonderen Verantwortung bewußt seien.

Vorschläge, die eine bessere Vorinformation der Eltern und Kinder über das Programm, und vor allem eine verstärkte Medienerziehung zum Ziel haben, müssen nun überprüft werden. Nicht zuletzt daran wird sich zeigen, ob der ORF mit diesen Mediengesprächen tatsächlich den Dialog mit den Eltern aufgenommen hat, oder ob es nur eine Veranstaltung zum „Dampfablassen“ gewesen sein sollte. Daß es keine Rezepte für diesen Problemkreis gibt und daß die Gewalt sicher nicht mit und durch die Medien ihren Ausgang nimmt, enthebt diese nicht ihrer Mitverantwortung.

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