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Morgenland, gleich hinter Wien

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(Unterwegs in den Orient.) Der heiße Frühsommertag hier am nördlichen Ufer des Neusiedler Sees läßt die Farben verblassen. Ein Dunstschleier oder aufgewirbelter Staub liegt in der Luft; längst sind die Umrisse der Häuser und der vollen Baumkronen weich wie im Nebel; sie scheinen an Konsistenz verloren zu haben und beben leicht, wie Gebilde in einem Traum. Menschenleer liegen die Straßen im gleißenden Licht. Wir fahren nach Halbtum, zur Ausstellung „Die Kunst des Islams”, versuchen unterwegs, einschlägige Erinnerungen aus dem Gedächtnis hervortreten zu lassen, doch will das Gehirn in der Hitze nicht recht gehorchen. Allerdings: Der Tag paßt zum Thema. So und nicht anders sind jene Tage, vor mehr als einem Jahrzehnt, im Vorderen Orient gewesen … Schloß Halbtum liegt leicht und luftig im Park, ein heiteres Bauwerk für sommerliche Tage. „Zwei vierachsige Pavillons mit Mansardendächern, die an türkische Zelte erinnern, umfassen die langgestreckte Front”: Der Satz istim Halbtum-Füh- rer von Marietheres Waldbott zu lesen, gedruckt lange Jahre vor Eröffnung der Islam-Ausstellung. Formen türkischer Zelte als Dominante eines barocken Schlosses, das Johann Lukas von Hildebrandt erbaut hat?

(Korrektur der Gefühle.) Das Schloß ist wahrscheinlich zwischen 1701 und 1711 entstanden. Werner Steins berühmter Kulturfahrplan weiß für das Jahrzehnt über die Türken nichts Erwähnenswertes zu berichten. Sein Schweigen ist symptomatisch. Nach dem Frieden von Karlowitz, 1699, ist von orientalischen Einflüssen im mittleren Europa nur mehr selten die Rede, obwohl die kulturellen Leistungen des Islams in unserem Bereich erst jetzt wirklich zu Wirken beginnen - durch den Sieg der christlichen Truppen. Das Paradoxon ist einfach. Mit 1699 begann die Zeit, in der man von Wien aus große Gebiete im Südosten Europas zu verwalten versuchte, Gebiete, die zweihundert Jahre hindurch unter türkischem Einfluß gelegen waren. Das heißt: Das Türkische wirkte nun im gesamten Organismus des Reiches weiter, ausgehend von den frisch erworbenen Gebieten. Diese Wirkung war befruchtend.

An diesem Punkt müßte eine Korrektur des historischen Bewußtseins einsetzen, eine vorsichtige Überprüfung der Gefühle. Der sprichwörtliche Gegensatz Abendland-Morgenland ist in geistiger Hinsicht keine Kampfsituation, sondern eine schöpferische Wechselbeziehung. Nicht nur unsere Landwirtschaft hat den Türken manches zu verdanken, zum Beispiel die Verbreitung der Pflanzen, die aus der Neuen Welt herübergebracht worden sind. Auch die Entwicklung unserer Kunst fand gewaltige Leitbilder im Islam.

(Eine verpaßte Gelegenheit?) Eine Ausstellung, die heute unter dem Titel „Die Kunst des Islams” in Schloß Halbtum gezeigt wird, müßte den ganzen Reichtum der mohammedanischen Kultur begreifbar machen. Gezeigt werden 137 Exponate, vor allem Teppiche, und neben ihnen kunstgewerbliche Gegenstände aus Fayence, Glas oder Metall. Das herkömmliche deformierte Geschichtsbild wird dadurch nicht durch eine richtige Anschauung ersetzt. Aber wenn wir von dieser kulturhistorischen Chance ab- sehen, bleibt immer noch eine gewisse Enttäuschung.

Erstens: Die Ausstellung dürfte nicht „Die Kunst des Islams” heißen (zu bescheiden ist die Behandlung des großen Themas), sondern vielleicht: „Teppiche aus den klassischen Werkstätten des Islams”, denn es werden doch vor allem Teppiche gezeigt aus der exquisiten Sammlung des Museums für angewandte Kunst.

Und zweitens: Auch die Präsentation der Teppiche erfolgt recht sorglos. Ausstellungen von solcher Kargheit dürfte es eigentlich längst nicht mehr geben. (Wie haben wir es nur damals gelernt, wir angehenden Museologen? Die Erinnerung an das Studium wird lebendig - über ein Vierteljahrhundert hinweg.) Ja, gezeigt werden müßten:

Wandkarten über Herkunft und Verbreitung der Teppiche, der einzelnen Ornamente, des verarbeiteten Materials; eine Zeichenerklärung der Ornamentik; Abbildungen, die uns die Verwendung der Teppiche und übrigen Gegenstände zeigen im religiösen Kult und im Alltag; Exponate, die die Herstellung der Teppiche vorstellbar machen, also nicht nur die versteckte Photographie eines Mannes vor dem Webstuhl, sondern verschiedene Webstühle in natura, aber auch Gegenstände der Farbgewinnung; Material zur vergleichenden Motiv-Forschung (Teppiche, Bilder, Buchillustrationen, aber auch Märchen und Legenden); der Transport der Teppiche, wirtschaftliche Struktur und äußeres Bild der Manufakturen; Einflüsse auf die europäische Tapisserie usw., Musik, Projektionen, Figurinen, Bücher könnten und sollten die soziologischen, aber auch die theologischen Bezüge darstellen, das historische Milieu heraufbeschwören, die menschlichen Zusammenhänge greifbar machen.

(Not und Tugend.) Aus der Not kann der Ausstellungsbesucher freilich auch eine Tugend machen. DerMangel an lebendiger Information erlaubt ihm, ganz frei, vom Fachwissen ganz und gar unbelastet, nur der eigenen Eingebung folgend, nachzusinnen. Darin aber begibt sich der Betrachter bereits auf den inneren Weg dieser mohammedanischen Künstler und beginnt, ihre Lage und ihr Streben nachzuvollziehen. Denn dieser betörende und doch auch strenge Reichtum der Ornamentik entspringt nicht nur der Vorliebe für Geometrie, für abstrakte Spekulationen, nein, hier zeitigt auch das Bilderverbot seine unerwartete Wirkung. Da die Wirklichkeit unmittelbar nicht abgebildet werden kann, sucht die Phantasie nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten. Eine Versenkung im Strukturellen ist das Ergebnis. Eine eigene Symbolsprache kann entstehen, in der nun das Esoterische körperlos, also gewissermaßen in einem Zeichensystem der Esoterik vermittelt und begriffen wird.

(Oder ist es nur die Technik?) Ein fachere, den materiellen Begebenheiten der entsprechenden Lebensform innewohnende Gründe wirken ebenfalls. Die Bevölkerung, die solche Teppiche schuf, besaß ursprünglich keine Städte, ja auch keine festen Häuser. Die Nomaden brauchten für ihre Zelte leicht transportable Bodenbeläge. Ihre Mobilität war überhaupt gegen schweres Material gerichtet, also auch gegen kultische Abbildungen aus Stein oder Metall. Und außerdem: Die Technik des Teppichknüpfens begünstigt eine gewisse Ornamentik, fordert geradezu die Wiederholung ganz bestimmter Motive.

Ist aber die Tätigkeit selbst nicht zur Meditation geeignet? Entscheidet man sich für die Technik nicht, weil man mit ihrer Hilfe sowohl Teppiche knüpfen als auch die Verknotungen des Schicksals studieren kann? „Der Salim, ein älterer und erfahrener Künstler, sagt den übrigen das Muster bzw. die Knoten an”, schreibt Marietheres Waldbott. „Er singt wie der Muezzin am Minarett das Teppichmuster vom Blatt.” Wie der Muezzin … Ist das Zufall, Äußerlichkeit, Manier? Oder werden Arbeit und Sprachmelodie, Ornamentik und Farbenwahl gleichermaßen von einer Hoffnung nach Gläubigkeit durchdrungen, von einer Sehnsucht nach Religion?

Ist es die Lebensform, die solches Streben nach dem Unsichtbaren wachhält, oder ist die Lebensweise bloß Ereignis, Derivat, sichtbare Aus formung des metaphysischen Weltgefühls?

Die Frage führt auf das Spannungsfeld einer komplizierten Dialektik. Geopolitische Lage, Wirtschaft, gesellschaftliche Organisation, Technik sind sicherlich mitbestimmend. Genauso wirksam aber ist das Irrationale. Wir können es auch Wunder nennen: Das Wunder, das dem Menschen innewohnt, auch wenn er nichts Besseres zu tun weiß, als dieses Wunder in die Sprache der im Augenblick gerade modischen Vemünftelei zu übersetzen.

(Begegnung mit einem Hirschen). Die Natur ist dann und wann offenbar stärker als die esoterische Selbstdisziplin, die sich in der strengen abstrakten Ornamentik zeigt. Auf einem Teppich sind sogar Schiffe zu sehen mit Menschen in einem Meer, das mit Fischen und Seeungeheuem geschmückt ist. Wichtiger sind aber die wilden Tiere des Waldes: nicht wunderliche Visionen, sondern Feinde oder Opfer. Man muß sie abbilden, um sie erlegen zu können - diese Magie scheint seit der Zeit der Höhlenzeichnungen wirksam zu sein.

Ein sogenannter Rankentierteppich (Exponat Nummer 16, für mich das wichtigste Stück der Ausstellung) zeigt verschiedene Tiere, im Rankenwerk lauernd, zum Angriff bereite oder furchtsame Kreaturen, etwas abstrakt abgebildet: auf das Wichtigste ihres Wesens konzentriert. Dieser Teppich stammt aus Ostpersien. Er ist im 16. Jahrhundert geknüpft worden. Im Bestiarium hegt ein alter Bekannter. Ein Hirsch. Die schematische Darstellung eines Hirsches. Diese Darstellung ist ganz eng verwandt mit all den Reliefs aus Gold, die auf uns gekommen sind aus dem Reichtum der asiatischen Nomaden. Der Hirsch der Skythen ist es, der sich auf den persischen Teppich verirrt hat; er ist in einigen Exemplaren auch im Kunsthistorischen Museum zu Wien zu sehen, abgebildet an den goldenen Gefäßen des Fundes von Nagyszentjänos. Ich sah ihn in New York, wo die Menschen im Metropolitan Museum Schlange standen vor dem Skythengold. Ich sah ihn, als Kind, in Ungarn als Totemtier der nationalen Romantik. Und nun war er eben in Halbtum, auf dem Teppich abgebildet, genau zu jener Zeit, in der hier die Türken erschienen sind.

Hier, in Halbtum. Viel weiter gegen Westen sind sie nicht vorgedrungen. Die Wirksamkeit innerasiatischer Mythen zerbricht im Voralpenland.

(Eine Frage, ganz zum Schluß.) Sehr schön sind die Gebetsteppiche. Manche zeigen architektonische Formen, wollen Säulen darstellen oder ein Tor. Verständlicherweise. Der Gebetsteppich ist Symbol des Heiligtumes; wer ihn zur gegebenen Stunde aufrollt, ist in die Welt des Glaubens’eingetreten. Das heißt mit anderen Worten: Diese Nomaden führten ihr Heiligtum mit sich, als Symbol. Sie besaßen transportable Kirchen.

Könnte es nicht sein, daß sich die heutigen Nomaden ebenfalls nach transportablen Heiligtümern sehnen? Wäre es nicht möglich, daß all die Autofahrer und Touristen, Wohnwagenbesitzer und Campingplatzbesucher die Kirche - zum Beispiel in der symbolischen Form eines Teppichs — gerne mitführen wollten? Sehnen sich manche heutige Nomaden nach einem eigenen Feldgottesdienst? Nach einem eigenen abgegrenzten Raum ihrer Ängste und ihres Höffens? Hätte ein Gebetsteppich im Europa der Autofahrer psychotherapeutische Wirkung?

In der Hitze des Frühsommers flimmert Undeutliches am Horizont.

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