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Morgensonne in der Stadt

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Sie öffnet das Fenster. Sonne. Wärme. Die Luft wie ein weiches, feuchtes Tuch auf der Haut. Seltsam. Wer ist das Wetter? Jedenfalls etwas, das einen gewissen Eigenwillen besitzt. Jemand, der einen gewissen Eigenwillen besitzt?

Sie bleibt am Fenster. Der Kaufmann gegenüber schiebt die Läden zur Seite. Stellt die schwarze Tafel neben die Tür. Geht. Kommt gleich wieder mit einem Schwamm in der Hand. Löscht die Mitteilungen des vergangenen Tages. Die Butter im Sonderangebot verschwindet ebenso wie der Weinbrand, zehn Prozent unter dem Preis vor den Feiertagen. Der Kaufmaim wendet sich um. Blickt die Straße entlang. Schaut, obwohl bloß die Häuser zu sehen sind und der Himmel darüber.

Kein Mensch. Bloß er selbst vor seinem Laden. Er schaut. Steht still. Was er wohl sieht? Aber er wartet nur auf das Trockenwerden der Tafel. Der Schwamm, der jetzt oben auf der Tafel liegt, ist natürlich feucht. Endlich wendet er sich wieder seinem Geschäft zu. Nimmt ein Stück Kreide aus der Tasche seiner grauen Schürze. Begiimt zu schreiben. Kohl vom Gärtner heute frisch. Tomaten aus Sizilien. Er unterstreicht Sizilien. Sie lächelt. Meint, daß Italien wohl genügen würde.

Der Kauf mahn hält irme. Uberlegt. Schreibt wieder: Dinkelweizenflocken! Tatsächlich mit Rufzeichen dahinter. Jetzt bückt er sich. Hängt ganz unten noch eine letzte Zeile an: Für die Gesundheit ! Noch ein Rufzeichen. Zufrieden betrachtet er sein Werk. Rückt die Tafel zurecht. Geht in seinen Laden.

Sie schließt das Fenster, öffnet es aber sofort noch eiimial. Spürt gleich wieder die feuchte warme Luft auf der Haut. Ist dankbar dafür. Beugt sich vor. Lehnt nun mit den Unterarmen am Fensterbrett. Kann die ganze Straße überblik-ken. Kein Mensch da. Bloß die Häuserfronten und der Himmel darüber.

Dann erst fällt ihr auf, daß die Häuser der einen Straßenseite tief im Dunkel Uegen, während die gegenüber hell im Sonnenlicht strahlen. Am Abend wird es umgekehrt sein. Sie schließt einen Moment lang die Augen. Stellt sich vor, wie es dann sein wird. Die Abendsonne so schräg, daß sie sogar bis in den Laden gegenüber dringen wird mit ihren Strahlen.

Jetzt steht der Kaufmann im Eingang zu seinem Laden. Schaut zu ihr hinauf. Zum geöffneten Fenster im ersten Stockwerk des Hauses gegenüber. Er sieht sie. Winkt ihr. Lächelt. Wünscht einen guten Morgen. Sie erwidert. Lächelt ebenfalls. Er geht in sein Geschäft. Sie bleibt. Denkt an den Kaufmann.

Ein alter Herr, der ihr Vater sein könnte. Alleinstehend. Seine Frau soll vor Jahren verstorben sein. Sein Geschäft ist wohl sein Leben. Oder? Mit einer raschen Bewegung richtet sie sich auf. Schließt das Fenster jetzt zum zweiten Mal. Beginnt, im Zimmer auf und ab zu gehen. Sein Leben? Nein! Sicherlich nicht der Laden und das Geschäft. Er ist immer freundlich. Gibt Ratschläge. Das ist zu empfehlen heute. Das nicht. Das Wohl seiner Kundschaft scheint ihm am Herzen zu liegen. Aber halt! Das scheint doch nicht bloß so zu sein. Das ist so.

Schon in der nächsten Sekunde weiß sie, daß dieser Kaufmaim da unten in seinem Laden die Menschen liebt. Nicht bloß diesen oder jene. Alle! Auch solche, die sich beklagen, weil er manches nicht hat, in manchem teurer ist als die großen Geschäfte. Immer lächelt er. Redet. Erklärt. Verspricht, sich zu bemühen und günstiger einzukaufen, um billiger sein zu können. Lächelt. Redet. Empfiehlt. Rät ab. Erzählt die eine oder andere Kundschaft, hört er zu. Ninmit Anteil.

Sie hält iime. Steht bloß da. Denkt und weiß, daß das jetzt wohl ihr Denken ist, aber es sind nicht ihre Gedanken. Wessen Gedanken? Gedanken Gottes? Der Engel? Jedenfalls Gedanken, die in der Welt leben von Anfang an. Heute. Weshalb heute?

Das Dasein des Kaufmannes unten ist ein Kunstwerk. Das Leben ein Kunstwerk. Sie denkt an Maler und Bildhauer. Dieser einfache Kaufmaim? Kein Mensch kann aus eigener Kraft erreichen, was der erreicht hat. Aber wenn es gute Mächte gibt, die helfen, dann doch auch böse, die hindern? Was macht dieser Mensch da unten, daß die Guten ihm helfen und die Bösen ihn nicht hindern?

Wer hat mich eben beschenkt? Weshalb heute morgen? Ein Blick zum Fenster. Die Sonne. Das Wetter. Sie hebt die Arme. Streckt sich. Läßt die Arme langsam sinken. Hält auf halbem Weg an. Eine Geste der Erwartung. Der Augenblick vor der Umarmung. Nun sind die Arme, die Finger zu Boden gerichtet, die Handflächen nach vorne. Ein paar Sekunden steht sie noch da. Darm wendet sie sich um. Geht hinaus.

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