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Moskauer Kammeroper: Die Freiheit der Braven

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Der Carinthische Sommer bescherte Österreich ein Musikereignis besonderer Art. Das Gastspiel der Moskauer Kammeroper lockte zwar nicht die Snobs und Adabeis nach Villach, bot dafür aber einen interessanten Einblick in den erstaunlich lebendigen Alltag des sowjetischen Musiktheaters.

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Der Carinthische Sommer bescherte Österreich ein Musikereignis besonderer Art. Das Gastspiel der Moskauer Kammeroper lockte zwar nicht die Snobs und Adabeis nach Villach, bot dafür aber einen interessanten Einblick in den erstaunlich lebendigen Alltag des sowjetischen Musiktheaters.

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Die Moskauer Kammeroper ist ein Kellertheater mit wenig mehr als 200 Sitzplätzen, mit einem spartanisch ausgestatteten Zuschauerraum, aber erstklassigen künstlerischen Kräften. Sie ist täglich ausverkauft. Ein Dirigent wie Roschdestwenskij steht hier regelmäßig am Pult, soweit es sein „Nebenberuf1 am Bolschoj-Theater zuläßt.

Was erwartet sich ein mitteleuropäisches Konzertpublikum von einem Gastspiel dieses Ensembles, wenn auf dem Programm „Die Nase“ von Dimitri Schostakowitsch sowie Opern von heute nach Stoffen von Gogol stehen? Sicher nicht interpretatorische Spitzenleistungen wie in Salzburg (wenn man Glück hat), sicher nicht sommerliche Unverbindlichkeit. Sondern da möchte man natürlich erfahren, was sowjetische Komponisten unter moderner Oper verstehen, was sie dürfen, was sie sich gerade noch leisten können, was dem sowjetischen Publikum gefällt. Wer mit solch aufge schlossener, aber realistischer Erwartungshaltung anreiste, wurde an keinem der vier Abende enttäuscht.

Succus des Gastspieles: Sowjetische Komponisten dürfen offenbar so komponieren, wie sie wollen - und können. Sie dürfen alles, was unter Stalin als dekadent verpönt war. Die Grenzen werden nicht von der Parteilinie, sondern von der künstlerischen Potenz gezogen. Es wird offensichtlich heute in der Sowjetunion so manches komponiert, was sehr wohl wert ist, auch hierzulande gehört zu werden. Aber die Sternstunden der Moderne, in denen etwa Schostakowitsch „Die Nase“ schrieb, sind auch in der Sowjetunion vorbei.

Dieses Werk war denn wohl auch der Höhepunkt dieses Carinthischen Sommers und ein Höhepunkt des Opernjahres. Denn leider bekommt man es (außer auf Platte in der Aufnahme der Moskauer Kammeroper, Melodia Eurodisc, 89502) im Westen nie oder so gut wie nie zu hören, weil es einerseits auf konventionelle Klangerlebnisse eingestimmte Ohren verprellt und anderseits angeblich nur in kleinen Häusern spielbar ist (was ich nur mit großen Einschränkungen akzeptiere). Dabei haben wir ės hier mit einem Meisterwerk der Opernliteratur unseres Jahrhunderts zu tun, geschrieben von einem 22jährigen, und heute, ein halbes Jahrhundert später, noch immer von vielen unterschätzt.

Stalin wußte aber sehr genau, warum er „Die Nase“ 1930 sofort nach der Uraufführung unterdrücken ließ und warum er „die ganze Richtung“ nicht mochte. Schostakowitsch schrieb das auf einer Novelle von Gogol fußende Buch selbst. Die Handlung ist eine einzige Respektlosigkeit: Herr Kowaljoff jagt seiner eigenen Nase nach, wagt aber kaum, sie anzu- Sprechen, da sie ihm in der Uniform eines Staatsrates entgegentritt. Der Text ist voll von Anspielungen auf Hierarchie und Bürokratie und auch das materialistische Nützlichkeitsdenken in seiner präpotenten Vordergründigkeit wird aufs Korn genommen. Die Musik anderseits legt Zeugnis davon ab, daß sich der junge Schostakowitsch zwar auch der russischen Tradition, mindestens ebensosehr aber den westeuropäischen stilistischen Entwicklungen verpflichtet fühlte und genau wußte, wie anderswo komponiert wurde.

Er erlitt das tragische Schicksal eines unterdrückten Geistes, eines an seiner Entfaltung gehinderten Talents. Er ließ sich auf jenes Maß herunterstutzen, das die stalinistische Admini-

stration zu kapieren in der Lage und zu tolerieren bereit war; das nach Stalins Tod entstandene Spätwerk, in dem

Schostaköwitsch den Anschluß an Seine abgebrochene Entwicklung sucht, ist noch immėr vöh einer Wucht, die erkenrien läßt, welcher Einfallsreichtum, welche künstlerische Intelligenz da abgewürgt wurde.

Eine ganze Komponistengeneration sucht Entwicklungen wieder aufzunehmen. Die Breite des sowjetischen Opernschaffens fördert den Prozeß: Die Komponisten schreiben nicht nur laufend neue Werke, diese werden auch gespielt, um dann neuen Platz zu machen. Einer der Gründe, die im Westen zur Stagnation der Kunstform Oper führen, ist die Schwierigkeit,

neuen Werken die Chance einer Erprobung auf der Bühne zu verschaffen.

Auch Alexander Cholminow, der einst Propagandalieder schrieb und heute düstere Themen ohne direkten, aber mit starkem indirekten Bezug zur Gegenwart wählt, griff nach Gogol. Die Moskauer Kammeroper zeigte zwei Kurzopern nach Gogol-Erzählungen, vom Komponisten in die adäquate sprachliche Form gebracht: „Der Mantel“ und „Die Kutsche“. Letztere hat wenig mehr als gefällige Rhythmik zu bieten, „Der Mantel“ aber ist ein vom Mitleid mit dem sterbenden kleinen Beamten Baschmatschkin getragenes Werk. Ein eher gängiges Kompositionsschema steht im Dienst einer emotionell aufgeladenen Wechselwirkung zwischen Musik und Text, Orchester und Sänger. „Der Mantel“ ist ein Requiem auf den kleinen Mann, dessen Tragödie es ist, daß er auf der Suche nach einem minimalen Quantum Gerechtigkeit erkennen muß, daß er für die Hochgestellten nicht mehr ist als ein Nichts.

Am anderen Ende des Spektrums: Die rothaarige Lügnerin und der Soldat“, ein westlicher Musical-Routine nachempfundenes Nichts. Nich gänzlich ohne Charme, der auf einem Rest von Ungeschicklichkeit bei der Nachahmung westlicher Popvorbilder beruht. Aber auch hier: Statt Patriotismus das Recht auf private Gefühle.

Es lohnt sich also, auch das Schaffen jener Autoren zu beobachten; die keine Dissidenten sind, um auf ein politisches Klima und auf die Umstände schließen zu können, unter denen heute in der Sowjetunion Kunst und Literatur entstehen.

Das Sprechstück „Letzten Sommer in Tschulimsk“ des wenige Tage nach"' der Fertigstellung im Baikalsee ėr-: trunkenen Wampilow dürfte deutlich zeigen, wie weit ein sowjetischer Autor heute gerade noch gehen darf. Da gibt es den in ein gottverlassenes Nest strafversetzten, resignierten Polizeibeamten Schamanow, der sich zu sehr um den von einem Prominentensohn verursachten tödlichen Autounfall gekümmert hat, und der durch eine Liebesgeschichte seine Selbstachtung wiederentdeckt - aber damit auch wieder seine Unbequemlichkeit.

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