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Moskauer Muskelspiel

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Spätestens seit der Unabhängig- keitserklärung vom 11. März ist Litauen ein Dauerthema der Me- dien. Bisweilen erscheinen die Li- tauer dabei als Hasardeure ohne globales wirtschaftliches und poli- tisches Konzept, die bereit sind, für ihre Unabhängigkeit alles aufs Spiel zu setzen. Manche, denen die Wie- derherstellung der staatlichen Souveränität Österreichs längst eine Selbstverständlichkeit ist, haben auch den Vorwurf des Natio- nalismus schnell bei der Hand. Wären die Litauer keine Nationali- sten, hätten sie sich gegen einen aggressiven russischen Nationalis- mus, der sich auf die Mühlen der Bürokratie und auch auf Zwangs- ansiedlungen verlassen konnte, nicht behaupten können.

Ein mehrfach erhobener und ernstzunehmender Vorwurf lautet: Litauen hätte vergessen, daß die neue Freiheit und damit alle bisher gesetzten Schritte erst durch Gor- batschow möglich geworden sind; Litauen solle Augenmaß bewahren und nicht durch seine Radikalität zum Scheitern der Perestrojka bei- tragen. Dabei wird übersehen, daß viele bisherige Kompromißvor- schläge gescheitert sind.

Die von Moskau zugestandene Teilselbständigkeit etwa wurde in der Praxis oft sabotiert, auch von manchen Werken und Betrieben, die offen oder versteckt eine wei- tere Zusammenarbeit ablehnten und auch bestehende Verträge nicht einhielten.

Man kann als sicher annehmen, daß Gorbatschow nicht vorausge- sehen hat, welche Nationalitäten- probleme die Perestrojka auslösen würde. Schwer verständlich ist, warum er später die mit Sicherheit zu erwartenden Unabhängigkeits- forderungen offenbar nicht ernst- genommen hat. Nach dem endlich erfolgten Eingeständnis des Hitler- Stalin-Paktes und der Okkupation war die Forderung „Okkupanten raus!" logisch der nächste Schritt.

Das Schlimme an der jetzigen Situation ist, daß sich beide Seiten keinen Handlungs- und Verhand- lungsspielraum gelassen haben. Weder die litauischen Reformkom- munisten noch die Bewegung „Sa- judis" können jetzt noch nachge- ben - sie würden vor den Wählern das Gesicht verlieren. Genausowe- nig kann der eben mit bedenkli- chen (vielleicht für die Verwirkli- chung der Perestrojka in Rußland nötigen) Vollmachten ausgestatte- te Präsident Gorbatschow dem ersten Austrittsversuch aus der Union tatenlos zusehen. Da er Gewalt nicht anwenden kann, ohne in den Augen der Weltöffentlich- keit jeglichen Kredit zu verspielen, bleibt ihm nur der wirtschaftliche Druck.

Die Stimmung in Litauen war am vergangenen Wochenende ruhig und gelöst. Telefonverbindungen nach Vilnius klappten problemlos, zirka 300 ausländische Journali- sten hielten sich trotz der sowjeti- schen Aufforderung zur Abreise dort auf. Die Regierungsbildung schritt voran, der Kontinuität hal- ber sollen möglichst viele der alten Minister im Amt bleiben.

In der Sajudis-Zentrale ist man überzeugt, daß die in einem Mili- tärquartier nördlich von Vilnius zusammengezogenen Panzer und Fallschirmjäger nur als Muskelspie- le zur Einschüchterung zu deuten sind. Daß die Situation schon we- gen möglicher Provokationen, die eine nicht mehr steuerbare Eigen- dynamik gewinnen könnten, ge- fährlich ist, liegt auf der Hand.

Über die wirtschaftliche Lebens- fähigkeit eines litauischen Staates lassen sich nur vage Prognosen stellen. Sicher ist, daß er seine Bewohner ernähren könnte. Tatsa- che ist, daß Litauen auch jetzt schon nicht nur Agrarprodukte wie Holz, Apfelsaftkonzentrat (im Tausch gegen landwirtschaftliche Maschi- nen in die Schweiz) und Milchpul- ver exportiert, sondern auch Fern- sehapparate, Motoren für Trakto- ren, Bohrmaschinen, Drehbänke und Kinderfahrräder in den We- sten liefert; teilweise sind diese Produkte nur noch nicht als litaui- sche erkenntlich.

Eine schwierige Frage sind die finanziellen Forderungen, die die UdSSR gegen Litauen erhebt. Hier gibt es vielleicht nur. zwei Lösun- gen: entweder verzichten beide Teile auf alle Forderungen oder die ge- genseitigen Aufrechnungen werden von einer internationalen Kommis- sion überprüft.

Innersowjetische Vorgänge kön- nen für die politische Zukunft bedeutend sein: Die Abspaltung auch der estnischen KP von der KPdSU und die bald zu erwartende Unabhängigkeitserklärung machen ein Eingreifen der Sowjetunion immer unwahrscheinlicher.

Entscheidend für die politische Zukunft wird sein, welche Staaten den litauischen Staat anerkennen werden. Von jenen Ländern, die die Einverleibung Litauens durch die UdSSR nie anerkannt haben - allen voran die USA -, müßte man als Konsequenz die Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung wohl erwarten. Die Demokratien Euro- pas werden sich die Frage gefallen lassen müssen, wie sie einerseits das Selbstbestimmungsrecht der Völker hochhalten und über die Selbständigkeit der letzten Kolo- nie in Afrika jubeln, andrerseits aber die Unabhängigkeitserklärung eines aus freien und rechtmäßigen Wahlen in einem okkupierten Ter- ritorium hervorgegangenen Parla- ments ignorieren können.

Der Aulor, von 19S4 bis 1986 als Universitäts- lektor lür deutsche Sprache in Vilnius, ist Lektor heim Otto Mueller Verlag in Salzburg

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