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Moskaus Soldaten-Karte

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Uber das Werden der sowjetischen Militärmacht von 1917 bis zu unseren Tagen existiert zur Zeit - um es vorweg schon zu sagen — kein besseres Buch auf dem deutschen Büchermarkt. Der Autor, ein gebürtiger Russe, der als junger Rotarmist 1942 in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet und nach Kriegsende im Westen blieb, kennt sein Thema in jedem Detail.

Michael Morozow versteht es, dem Leser ein vielseitiges und buntes Bild mit Fakten über die Entwicklung des sowjetischen Armeewesens aufzuzeichnen, das in den Anfangszeiten der Staatsgründung noch strikt auf internationale Basis gestellt wurde und sich erst in der späteren Herrschaftszeit Stalins und dann wiederum unter Breschnew zu einem Instrument sowjetischer chauvinistischer Großmachtpolitik entwickelte.

Morozows Buch ist in drei droße Abschnitte gegliedert. Im ersten Teü werden die revolutionären Wirren in Russland, die Geburt der Roten Arbeiter- und Bauem- armee im Frühjahr 1918 und der vier Jahre dauernde blutige Bürgerkrieg geschildert.

Leo Dawidowitsch Trotzki, der geniale Organisator dieser Armee, dessen Name in der Sowjetunion noch heute verfemt ist, wird vorgestellt, aber auch Michail Frunse, der „rote Clausewitz“ und Kriegskommissar Stalins.

Auch andere Führungspersönlichkeiten der jungen Roten Armee tauchen in Morozows Buch auf: Namen, die man heute nicht einmal mehr in der Sowjetunion kennt. Denn ihre Träger - obwohl sie selbst große persönliche Opfer für die Revolution brachten — wurden später, in der Stalin-Zeit, als vermeintliche „Volksfeinde“ eingekerkert, verbannt und dutzendweise hingerichtet.

Der Autor, der sich auch in der einschlägigen sowjetischen Fachliteratur souverän auskennt und sie reichlich zitiert, behandelt im zweiten Teil, dem er den Titel „Restauration“ leiht, die sowjetische Zwischenkriegszeit und die schweren Jahre des Zweiten Weltkrieges, der für die Sowjet union im Juni 1941 begann, als Hitlers Truppen Stalins Reich „wortbrüchig“ überfielen.

Namen, Daten, Schlachten und Feldzüge, dann Zahlen und Waffentypen, Tabellen mit wertvollen, anderswo kaum auffindbaren Informationen bereichern den Text, in dem uns der „Große Vaterländische Krieg des Sowjetvolkes“ (laut amtlicher Bezeichnung) vorgetragen wird.

Bereits aus dem Bürgerkrieg war eine geschlossene, hochmütige und sieggewohnte Kaste von

Armeeführern hervorgegangen, die auch die ersten Waffenschmiede der jungen Sowjetmacht stellte. Zwar hatte Stalin das Gros dieser Führungskader während der blutigen Säuberung 1936 — 1941 selbst vernichtet, doch nun wurde auch der Zweite Weltkrieg zur Hebamme des militärindustriellen Komplexes in Moskau.

Die Sieger von 1945, die diesen Sieg zweifelsohne mit viel Opfermut und mit noch mehr Blut errangen, wurden nach 1945 eine der privilegiertesten Schichten der Sowj etgesellschaf t.

Morozow betrachtet die Chruschtschow-Ära (1955—1964), was das Armeewesen betrifft, als ein „flüchtiges Intermezzo“. Sein Hauptaugenmerk richtet er auf Leonid Iljitsch Breschnews Herrschaftszeit. In diesen 18 Jahren wurde die sowjetische Militärmacht auch auf technischem Gebiet zu einer der Ersten der Welt.

Der dritte Teil des Buches, betitelt „Expansion“, ist dieser und der Entwicklung der sowjetischen Streitkräfte — so heute die offizielle Bezeichnung - gewidmet. Uber Personalpolitik, technischen Fortschritt, Strategie und Expansionsbestrebungen Moskaus wird der Leser auf nicht weniger als 100 Seiten orientiert.

Extra hervorgehoben wird dabei die Macht und die Bedeutung des militärindustriellen Komplexes der Sowjetunion, in den Wis senschaftler und Konstrukteure eingespannt sind, deren Wirken kein Parlamentsausschuß und keine Presse kontrolliert. Sie unterstehen einzig und allein der Moskauer Parteiführung, deren Wünsche für sie strikte Befehle sind, auch wenn sie nicht mit ihrem wissenschaftlichen Gewissen übereinstimmen (siehe etwa den Fall Sacharow!).

Der letzte Abschnitt des Buches ist dem Krieg in Afghanistan gewidmet. Diese Militärexpedition, die man schlecht als „Befreiungsfeldzug“ bezeichnen kann (und dies tun nicht einmal die Sowjets!) markiert — laut Morozow — eine neue Wende in der sowjetischen Politik.

Die Sowjets haben hier eindeutig das Erbe des Zarentums angetreten und die vor knapp hundert Jahrpn abgebrochene Expansion der Romanows wieder aufgenommen. „Ist damit die Grenze erreicht“, fragt der Autor und versucht die Antwort über die zukünftige Militärpolitik Moskaus zu geben.

Der Verlag, der das Morozow- Buch herausbrachte, preist das Werk als ein „Handbuch über die Rote Armee“. Das ist es auch, aber eigentlich nur für diejenigen, die schon einigermaßen Vorkennt- nisse zum Thema und überhaupt zur Geschichte der Sowjetunion besitzen. Für sie ist es eine wahre Fundgrube. Denn das Buch enthält eine Fülle von Informationen, die man in Werken westlicher Autoren kaum oder überhaupt nicht vorfinden kann.

Noch ein Wort zu den Illustrationen: Uber 100 Schwarzweiß- Photos bereichern den Text. Es sind Dokumentarbüder, die aus dem Privatarchiv des Autors stammen und die im Westen bisher größtenteils unbekannt waren. Es ist aber eigentlich schade, daß der Verlag den wahren Wert dieser Illustrationen nicht erkannt, den Großteil davon nur auf engem Raum zusammengepfercht und sie somit um ihre Wirkung gebracht hat.

DIE FALKEN DES KREML. Die sowjetische Militärmacht von 1917 bis heute. Von Michael Morozow. Langen Müller Verlag, München 1982. 574 Seiten, Ln., öS 288,80

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