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Müde gewordene Demokraten

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Tief verstrickt in korrupte Machenschaften ist der erste demokratisch gewählte Präsident Brasiliens, Fernando Collor de Melle. Die Folgen für die junge Demokratie sind unabsehbar, das schlechte Beispiel für Lateinamerika ist verheerend. Bei kommenden Wahlen droht Wahlabstinenz.

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Tief verstrickt in korrupte Machenschaften ist der erste demokratisch gewählte Präsident Brasiliens, Fernando Collor de Melle. Die Folgen für die junge Demokratie sind unabsehbar, das schlechte Beispiel für Lateinamerika ist verheerend. Bei kommenden Wahlen droht Wahlabstinenz.

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Fidel Castro, wurde im Juli in Madrid - soweit es das Protokoll zuließ - von den anderen Präsidenten geschnitten, denn die Demokratie-Rhetorik hatte beim iboamerikanischen Gipfel Hochkonjunktur. Peinlicherweise fehlten jedoch gleich drei Staatschefs, die sich interner Krisen wegen nicht von daheim forttrauten. So gab der Gipfel schon äußerlich ein Bild der Brüchigkeit der Demokratie in Lateinamerika.

Bis vor kurzem galt die idyllische Vision eines Lateinamerikas, in dem Demokratie und Wachstum zusammenfallen würden. Staatsstreiche und Militärputsche schienen endgültig der Vergangenheit anzugehören. Nach der Schuldenkrise der achtziger Jahre mit ihrer „verlorenen Dekade" sollten die jüngsten neoliberalen Umbauten die Plattform für frisches Wachstum in den neunziger Jahren schaffen. Gestrafft und wettbewerbsfähig, so dachte man, würde sich ein verfassungsmäßig regierter Subkontinent auf dem Weltmarkt zeigen und dort mit nichttraditionellen Produkten die Finanzierung einer erfolgsorientierten Wachstumsphase erreichen.

Chile galt dabei als der Modellfall, dem die anderen Länder bald folgen würden. Nur Castros Cuba - so vor allem die Argumentation in Washington - tanze dabei als autoritär regiertes Land aus der Reihe.

Seit knapp einem Jahr stimmt diese Wunschvorstellung nicht mehr. Im September des Vorjahres warfen Haitis Offiziere ihren radikalen Befreiungstheologen und Präsidenten Aristide von der Insel; im Februar dieses Jahres entging Venezuelas Präsident Perez nur mit viel Glück einem Mordkomplott, das Eliteeinheiten der Armee eingefädelt hatten; seit Monaten wird Kolumbiens Präsident Gaviria von den Drogenbossen an der Nase

herumgeführt; und im April setzte in Peru Präsident Alberto Fujimori den Tatbestand des „Auto-Golpe", der eigenmächtigen Suspendierung von Parlament und Verfassung.

Weil Fujimori einen eigenen Fahrplan zur Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustands (zwar wird es doch keine Volksabstimmung geben, aber im Oktober sollen Gemeinderatswahlen als Ersatz-Votum stattfinden) vorgelegt hat, reagierte das interamerikanische System zwar bestürzt, hält jedoch -anders als im Falle Haiti - mit Sanktionen zurück.

Das Kuriose an der Situation ist noch etwas anderes: Fujimori konnte durchaus auf Zustimmung rechnen, weil kaum jemand aus den unteren Schichten einen Finger für die

Verteidigung der Demokratie heben will. Was bereits in Caracas beim Putschversuch zutage trat, hat sich in Lima wiederholt. Die Bevölkerung geht nicht etwa für die Demokratie auf die Straße, nein, sie steht eher schadenfroh abseits, lacht, wenn ein Parlamentarier verprügelt wird, oder klatscht gar den Putschisten Beifall.

Diese Abstinenz der Massen hat in Lateinamerika lange Tradition. Niedrige Wahlbeteiligung und Stimmenverkauf legen davon seit langem zahlenmäßig beredtes Zeugnis ab. Denn Formaldemokratie wurde, von Ausnahmen abgesehen, immer nur von einer weißen

aristokratischen Elite gehandhabt. Indianerbauern und mestizischen wie farbigen Unterschichten in den Städten hat Formaldemokratie nie viel eingebracht - schon gar nicht in wirtschaftlicher Hinsicht. Schlimmer noch: Die drakonische neoliberale Sanierung der jüngsten Zeit, die vor allem die aufsteigende Mittelschicht erneut in die Armut zwingt, wird von formaldemokratischen Präsidenten zwischen Buenos Aires, Caracas und Mexiko-Stadt durchgezogen. Brasiliens Präsident Collor de Mello hat damit sein Land in die Sackgasse geführt, sodaß ihm die Amtsenthebung droht.

Bei Lateinamerikas Massen hält sich, ja wächst der Verdacht, daß Demokratie arm macht und Hunger bringt. Warum also für Verfassung und Demokratie auf die Straße gehen?

Mit dieser Stimmungslage spielt der peruanische Präsident meisterhaft. Fujimori kann zudem als Argument in die Debatte werfen, daß der meteorenhafte Aufstieg der südostasiatischen Länder Südkorea, Taiwan und Singapur im Korsett autoritärer Regierungen, die Korruption und Schlendrian ausmerzten, erfolgte. Ahnliches hat Fujimori mit Peru vor. (Eleganter tut dies allerdings Präsident Menem, der Argentinien wie ein Autokrat regiert.)

Indes, Lateinamerika ist nicht Asien. Kein ziviler Präsident, weder Fujimori noch Menem, kann sich auf die absolute Loyalität der Offiziere verlassen. Diese mißtrauten immer der Formaldemokratie. Obendrein haben die jungen Demokratien des Subkontinents die Militärs in eine fatale Lage gebracht: da es keinen äußeren Feind mehr gibt und der sowjetische Kommunismus verpufft ist, ringt man in den Kasernen um ein neues Selbstverständnis; auf keinen Fall will man, was die demokratischen Präsidenten vorhaben - den Drogenpolizisten im Dienste Washingtons spielen.

So ist der Boden für alle zivilen Präsidenten in Lateinamerika brüchig geworden, weil ihnen allgemeine Demokratiemüdigkeit innerhalb und außerhalb der Kasernen entgegenschlägt.

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