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Die Szene ist gestellt, das Spiel läuft ab: Dialoge und endlos erscheinende Selbstgespräche, Rüpelszenen und idyllische Bilder wechseln einander in bunter Reihenfolge ab. Der Nationalrat diskutiert das Budget» den Bundesvoranschlag für das Jahr 1973. Die Medien bilden diese« Spiel ab und spucken es dem Bürger — zugegebenermaßen oft manipulativ — in seine Wohnstube. Die abendlichen Parlamentsminuten im Fernsehen oder die morgendlichen Resümees der Tageszeitungen werden ob ihrer exakten Zwischenrufwiedergabe zum Ärgernis der Familie Saubermann. Der Ruf um mehr Leistung, „um unser Geld“, wird laut. Aber ist das wirklich dann die Schuld der Zeitungen?

Die Verankerungen des Parlamentarismus im Bewußtsein des Staatsbürgers ist lose. Ist es die Schuld des Photographen oder der Darsteller? Zugegeben, es gibt Meuchelphotos, zugegeben: Es gibt auch im Parlament journalistische Voyeure.

Theoretisch besehen ist das Parlament ein „sozialtechnisches Mittel zur Erzeugung der staatlichen Ordnung“, dient also der „Bildung des maßgeblichen staatlichen Willens durch ein vom Volk auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes, also demokratisch gewählten Kollegialorgans, nach dem Mehrheitsprinzip“ (Kelsen). Konkret juristisch ist der Parlamentarismusbegriff aus dem Gefüge von Verfassungsnormen unter Beachtung der Gewaltentrennungslehre und des Organparallelismus, bei Dominanz der Legislative ableitbar. Aber ist in Österreich das Hohe Haus nicht längst zum Exekutor von Entscheidungen geworden, deren Schwerpunkte — im eklatanten Widerspruch zu Verfassungstheorie und Institutionenlehre klassisch-juristischer Prägung — im vorparlamentarischen Raum erarbeitet und gefällt werden? Uberspitzt gefragt: Ist das Parlament nicht mehr nur Stätte, wo bereits getroffene Entscheide zu Gesetzen gesalbt und zu Normen gekrönt werden? Uber die dann die Medien kritiklos und salbadernd dokumentieren sollen?

Diese Fragen zu beantworten, heißt sich der Identitätskrise des Parlaments, nicht des Parlamentarismus an sich, anzunehmen. Denn zu vieles hat sich geändert, eine zu große Zahl von Strukturelementen des Parlaments wurde ausgetauscht, als daß man die Fiktion einer monarchisch tradierten Zweiteilung Regierung versus Parlament aufrechterhalten könnte. Doch eben dies geschieht; zumindest formal.

Genau hier hat die Reform der

Geschäftsordnung des Nationalrates anzusetzen. Neben allen Detailproblemen, die da sind: Minderheitenrechte, Ausbau der Kontrollrechte und Hebung der Effizienz der Budgetdebatte, hat eine Geschäftsordnungsreform die gewandelte Rolle des Nationalretes zu reflektieren, auf die politische Funktionsteilung zwischen Regierung und Regierungsfraktion einerseits und der Opposition (den Oppositionsparteien) anderseits abzuzielen. Nur auf dieser, einer erneuerten Basis läßt sich die heutige Parlamentsrealität praktisch und theoretisch einbinden. Und deshalb kann man ein gutes Beispiel fordern: die Abgeordneten mögen doch zuerst einmal ihre Geschäftsordnung reformieren, bevor sie anderen — den Journalisten nämlich — Disziplinierungsverweise erteilen.

So dominiert heute ja auch der vorparlamentarische Raum mit seinen versäulten Institutionen permanent das Parlament. Geradezu Symbol dieses entmannten Parlamentarismus ist die Person des doppelten Präsidenten Anton Benya. Dem Präsidenten des Gewerkschaftsbundes (Primärfunktion) steht der 1. Präsident des Nationalrates gegenüber (siehe Seite 5).

Und im Plenum sitzt eine große Zahl von Abgeordneten, deren Beruf und Aufgabe die Interessenvertretung ist — jedoch nicht die der Wähler ihres Wahlkreises, wie man positivrechtlich normiert. Die Tatsache, daß Spitzenfunktionäre von Verbänden und Institutionen im Plenum und in den Ausschüssen ein unterdurchschnittliches Maß an Aktivität aufweisen, da sie über genügend Einflußmöglichkeiten außerhalb des Parlaments verfügen, beleuchtet die Situation ausreichend. So kommt es, daß im Hohen Haus — zumindest im Plenum — zwar über ein Gesetz gesprochen, aber selten Grundsätzliches diskutiert wird.

Die parlamentarische Abstimmung steht am Ende einer Kette von Konfliktdämpfungen und Kompromissen — samt ihren Präjudizierungseffek-ten im außerparlamentarischen Raum. Damit keine Mißverständnisse entstehen: Niemand will die Extreme, nämlich starre, unabänderliche Gesetzesentwürfe oder, in der Umkehrung, eine totale Opposition: aber parlamentarische Pflichtübungen infolge vorgegebener Ergebnisse bedeuten einen Substanzverlust des Parlamentarismus. Die Demokratie aber, deren Basis die Identität von Herrscher und Beherrschten und die parlamentarische Repräsentation ist, bedarf eines Parlamentes, das Stätte der Konfrontation der Ideen ist, das die Leitung des Staates in großen Linien durchdenkt und — debattiert.

Denn sollte es nicht gelingen, in der Öffentlichkeit die fatale Gleichsetzung des Parlamentarismus mit dem Plenum des Hauses am Doktor-Karl-Renner-Ring durch eine Stilreform und eine Verfassungsreform, die die politische Realität einigermaßen einbindet, auszuräumen, dann kann die zweifellos bestehende Anpassungskrise des Parlaments nur zu leicht zu einer Verfallskrise des Parlamentarismus an sich werden.

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