6935426-1983_08_04.jpg
Digital In Arbeit

Müdigkeit auf halber Strecke

19451960198020002020

Einiges ist inn Bereich der Demokratiereform ge-sciiehen. Docli der Schwung früherer Jahre ist vorbei, obwohl vieles noch unerledigt ist - etwa die Wahlrechtsreform.

19451960198020002020

Einiges ist inn Bereich der Demokratiereform ge-sciiehen. Docli der Schwung früherer Jahre ist vorbei, obwohl vieles noch unerledigt ist - etwa die Wahlrechtsreform.

Werbung
Werbung
Werbung

Ende der sechziger Jahre wurde immer wieder die Frage der Demokratiereform und der Demokratisierung diskutiert. Der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem sich die Demokratisierungsdebatte entfaltete, war durch folgende Aspekte gekennzeichnet: 9 Vom tJbergang von der Koalition zum System der Parteien-

konkurrenz: Das Unbehagen an bestimmten Erscheinungen des Koalitionssystems (Postenpro-Packelei") wurde dadurch zur Diskussion freigegeben, aber auch kritisches Potential gebunden und kanalisiert. % Vom großen Wachstums- und Fortschrittsoptimismus der sechziger Jahre: Nach dem Abschluß des Wiederaufbaues erschienen auch früher zurückaestellte Demokratieforderungen erfüllbar und - in allen Lagern - sogar erwünscht, weil eine Gleichsetzung von Demokratisierung und Effizienzsteigerung vorgenommen wurde.

# Vom großen Institutionenglauben und der Uberzeugung, durch Recht die Gesellschaft ändern zu können: Eine Modernisierung im Nachzugsverfahren sollte „Osterreich zur Europareife" bringen. Unter anderem für die kritische Linke war die Debatte ein Anlaß, die Themen und Ergebnisse der Demokratisierungs-diskussior; in der BRD nach Österreich zu importieren.

Um die Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren erschienen viele Bestandsaufnahmen. Sie ergaben immer wieder die Ungleichheit von Parlament und Regierung, insbesondere die Ohnmacht der parlamentarischen Opposition. Das Verhältnis von Verfassung und politischen Großorganisationen, wie Parteien und Verbänden, erschien manchen ungeklärt.

Die Strukturdefekte unseres Regierungssystems — Proporzwahlsystem, Verhältnis von Regierung und Parlament wie in der konstitutionellen Monarchie, volksgewählter Bundespräsident — wurden analysiert.

Die Frage der Personenwahl und -auswahl, der Wiederwählbarkeit und der Unvereinbarkeit von Ämtern wurden um so mehr diskutiert, je mehr die „Multifunktionäre" mit ihrer Vielfalt von Rollen bewußt wurden.

Manche registrierten die Entfremdung der Menschen zur Demokratie in der Industriegesellschaft. Manchen erschien die Wirklichkeitsfremdheit unseres Demokratiemodells als Wurzel vieler Übel. Manchen wurden die Fiktionen der Demokratie bewußt. Manche stellten Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit gegenüber. Beim Volk war Unbehagen da, aber auch eine Stimmung für Veränderung. In dieser Stimmung war es leicht, .ReformVorschläge zu diskutieren und rechtlich zu realisieren.

Faßt man die Vorschläge zur Demokratiereform systematisch zusammen, so ergeben sich folgende Hauptpunkte:

• Parteien- und Verbändereform: Rechtliche Stellung, insbesondere verfassungsrechtliche Stellung von Parteien und Verbänden; innerparteiliche und in-nerverbandliche Demokratie; Minderheitsrechte; Stellung der Partei- und Verbandsfunktionäre, insbesondere die Qualifikation der Funktionäre, Wiederwählbarkeit und Unvereinbarkeit von Funktionen…

• Wahlrechtsreform: Uberwiegend wurde der Nachteil des Verhältniswahlrechtes hervorgehoben und für ein mehrheitsfor-derndes Verhältniswahlrecht, wenn nicht sogar Mehrheitswahlrecht, plädiert; weiters wurden Verpersönlichung des Wahlrechts und mehr Kontakt des Abgeordneten mit dem Wähler verlangt; schließlich wurde die Frage der Kandidatenauslese besonders hervorgehoben.

• Fast alle Vorschläge und Publikationen beschäftigen sich mit der Parlamentsreform. Dabei ging es einerseits um eine Verbesserung der schwachen Stellung des Parlaments gegenüber der Regierung, andererseits um die

Verbesserung der Stellung der Opposition; schließlich ging es um das Verhältnis von Plenum und Ausschüssen.

Zum Teil wurde vorgeschlagen, der Regierung mehr Rechtssetzungsbefugnisse zu übertragen, um das Parlament in seiner politischen Rolle (Kontrolle) aufzuwerten. Schließlich wurde auch gefordert, die außerberufliche Immunität und das sogenannte freie Mandat den Erfordernissen der Zeit anzupassen. Für eine parlamentarische Gegenbürokratie wurde nur teilweise plädiert.

Einschränkungen der parlamentarischen Immunität, Einführung von Vorzugsstimmen im Rahmen des bestehenden Wahlrechts, Einführung einer Altersgrenze in den Parteistatuten, die Institution des befristeten Mandats und die Frage der Politikerbesteuerung wurden ebenso zur Diskussion gestellt wie die Änderung des Wahlrechtes im Sinne einer Verbindung von Persönlichkeits- und Listenwahlrecht ähnlich dem bundesdeutschen Wahlrecht, die Verbesserung der Geschäftsordnung des Nationalrats, die Verstärkung der Mitwirkung des Nationalrates an der Vollziehung, die Erweiterung der parlamentarischen Kontrollrechte, die Stärkung des Bundesrates, die Wahl eines Anwalts des öffentli-

chen Rechtes durch die Bundesversammlung, neue Kontrolle im Sinne eines Ombudsmannes oder Bürgeranwalts.

• Regierungsreform: Vorschläge zur Reform der Regierungsstruktur etwa im Sinne eines neuen Verhältnisses von Ressortprinzip, Kollegialprinzip und Kanzlerprinzip und des Verhältnisses von Bundesregierung und Bundespräsident wurden nur zum Teil diskutiert.

• Grundrechtsreform: Die Reform der Grundrechte wurde in der Öffentlichkeit weniger disku-

tiert als im kleinen Rahmen der 1964 von Bundeskanzler Klaus eingerichteten Grundrechtsreformkommission.

Für viele stellte sich die Frage: Demokratisierung durch Reform von Institutionen oder — umgekehrt — Reform der Institutionen als Produkt einer vorangegangenen Basisdemokratisierung?

Demokratiereform als Demokratisierung, das verstanden viele als einen Ausbau der Demokratie im Sinne der Verbesserung des Verfahrens zur Rekrutierung der Regierenden des Ausbaues der Kontrolle der Regierenden und der Erleichterung des Austausches der Regierenden. Die Regierenden sollten in ein verstärktes Abhängigkeitsverhältnis zu den Regierten gebracht und die Distanz zwischen Regierenden und Regierten sollte abgebaut werden.

Es ist bemerkenswert, daß in der Demokratiereformdiskussion Ende der sechziger Jahre relativ wenig von direkter Demokratie, von Föderalismus, Dezentralis-mus und Selbstverwaltung gesprochen wurde.

In gewissem Sinne bestand ein Grundkonsens darüber, daß Freiheit und Mitbestimmung, Partizipation und Partnerschaft in möglichst vielen Bereichen der Gesellschaft institutionell und bewußtseinsmäßig verwirklicht werden sollen. In der Verwirklichung freilich spielten verschiedene, oft gegenläufige Interessen und Traditionen zusammen.

Es kam in den verschiedenen Gesellschafts- und Lebensbereichen zu einer Neuordnung der rechtlichen und institutionellen Verfassungen. So im Bereich der Familie, im Bereich des Bildungswesens, insbesondere im Bereich der Schulen und Universitäten, im Bereich der Wirtschaft im Sinne der Arbeits- und Betriebsverfassung, gewisse Änderungen spielten sich — wenn auch spezifisch - in bezug auf Parteien, Verbände. ORF ab.

Zum Teil kam es zu Liberalisierungen wie z. B. im Bereich des Strafrechts, zum Teil zu symbolischen Maßnahmen wie die Abschaffung der Todesstrafe.

Ein nie erlebter Wohlstand wurde das Polster für eine gewisse Auflösung, Veränderung und zum Teil Befreiung der Menschen aus alten Ordnungen und Strukturen. Ein großer Reformschwung breitete sich aus und setzte vieles in Bewegung.

Demokratisierungsprogramme wurden mit Hilfe der verschiedenen Bürokratien, in Rechtsnormen ,, übersetzt", den verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen wurden neue Verfassungen gegeben. Insbesondere ging es um die primären Sozialisationssyste-me, die Bildungssysteme, die informativ-kommunikativen Bereiche, die ökonomischen Subsysteme.

Die relativ zentralisierten politischen Großorganisationen, insbesondere Parteien und Verbände, gingen bei der von Staats wegen veranstalteten Demokratisierung nicht geradezu leer aus, wurden aber kaum in ihren Strukturen verändert. Heute stehen wir in und vor diesen Strukturen. Aber der Schwung ist verlorengegangen.

Univ.-Prof. Welan ist Ordinarius für Rechtslehre an der Wiener Universität für Bodenkultur.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung