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Mühsal der Jugend

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Man verlor seinen Glauben wie die ersten Zähne, nur etwas später. Es schmerzte manchmal. Es war ein Entwicklungsprozeß wie die wachsende Körperbehaarung und die Neugier auf das andere Geschlecht, wie das Vergnügen an sarkastischen Bemerkungen, die einem die wachsende Überlegenheit über andere, über die eigene Kindheit bewußt machte. Später konnte man es nicht einmal riehtig beschreiben. Später kämpfte man vielleicht ein bißchen darum oder war traurig, im Tagebuch des jungen Foucauld war viel darüber gestanden, er hatte es zerrissen. Sobald man darüber schreiben konnte, war alles schon geschehen. Zu spät.

Wenn man fünfzehn war oder sechzehn, verlor man den Glauben. Wenn man die erste Hostie vom Speisgitter abgeholt hatte, war man gesättigt. In Frankreich erhielt man die Erstkommunion mit fünfzehn, erst mit fünfzehn war man reif, den Herrn in sich aufzunehmen und ihn wieder zu verlieren. Ihn zu verleugnen wie Petrus im Hof des Hohenpriesters. Mit fünfzehn war man reif, die großväterliche Bibliothek zu plündern und die von Freunden dazu.

Villon war ein Klassiker, und mit Balzac lernte man das Leben kennen, wie es wirklich war, und wie man es selbst von Tag zu Tag hellsichtiger erlebte, auf der Straße, in der Kirche, in den Familien der Freunde. Und daß es in aristokratischen Kreisen ganz anders zugehen konnte, als in der eigenen untadeligen Familie. Ja selbst dort... Im Beichtstuhl die strengen Gebote, Angst und Zerknirschung, die Hülle in einen Holzkasten gesperrt — draußen, noch in der Kirchenbank, das wirküche Leben. „Schau sie dir an, wie sie Paar um Paar dastehen. Gib den Befehl, sie müßten sich so zusammenstellen, wie sie am Abend miteinander im Bett liegen werden! Das wäre ein Bäumchen-wechsle-dich-Spiel!”

„Du bist j a ein Witzbold”, lachte der Großvater. „Aber hüte dich vor der Skepsis! Sie zerstört alles.” Er sah es als Zeichen des Mann-Werdens, wenn sich der Enkel in seinem Zimmer einschloß. „Die jungen Leute müssen ihre Geheimnisse haben”, sagte er stolz, nicht ahnend, daß es die „Geheimnisse von Paris” waren, die der Junge statt der Bibel oder der Heiligengeschichten mit ins Bett nahm.

Zum Mann-Werden gehörte auch, daß man eine andere Kirche suchte, in der man sich mit Schulfreunden treffen konnte, wie man sagte, in der auch der Prediger besser, moderner war. Da merkte keiner, daß gleich um die Ecke ein prachtvolles Cafe lag, mit Marmortischen und großen Spiegeln, in denen schöne, eigenartig bemalte Frauen gleich doppelt zu sehen waren. Frauen, die nicht nur mit ihren Männern oder Freunden, mit ihrem Galan, wie es in den Büchern hieß, bei Tisch saßen, aus hohen Gläsern tranken und geheimnisvoll lachend mit ihren Fächern spielten, sondern auch allmählich auf den jungen Neuling aufmerksam wurden. Zu ihm herübersahen, einander anstießen und auf ihn deuteten, bis eine von ihnen, groß und blond und üppig und von einem betörenden Duft umgeben, mit leise klingenden Armreifen herübergeschlendert kam, ob sie dem Herrn nicht ein wenig Gesellschaft leisten dürfe.

Ob Gott existierte? Das wußte nur der auf der Kanzel, und Cousine Marie glaubte daran, aber die war weit fort. Die schön bemalte Blonde lachte über die Frage, er wollte nur noch zu schön bemalten Blonden gehen, ihr Lachen fügte keinen Schmerz zu. Opa Morlet war gut, und die Lehrer, zwischen dem radikalen Atheismus ihrer Brotgeber und der Tradition des Landes, das sich noch heute als „erste Tochter der Kirche” verstand, unsicher hin und her schwankend, waren neutral.

Neutral, aber anständig. Sie wußten, Schund oder Literatur, das waren ästhetische Kategorien, Voltaire schrieb seine Dramen nach klassischen Regeln, und Flaubert stieß mit seiner leidenschaftslos sachlichen Darstellung zum Realismus vor — und an den glänzenden Kanzelreden des Jacques Benigne Bossuet konnte man seinen Briefstil schulen.

Endlich war auch Charles so weit, zweifeln zu dürfen, wie es dem Zeitgeist entsprach. Was war bewiesen, wenn es so verschiedenartige kluge Beweise gab? Sein Verstand war unfähig, bis zur Wahrheit vorzudringen. Wie sollte er auch, der kleine dicke Junge mit den Pusteln im Gesicht, für die er sich schämte! „Du mußt zu Madame Hortense”, sagte einer, „dort lieben sie dir alles weg.” „Mach ich doch schon”, sagte er, „es nützt nur nichts.”

Wozu war das alles gut, was er tat? Manchmal überkam ihn die Lust, sich auch den Atheismus beweisen zu lassen, wie man allerorten die Religion bewiesen haben wollte, nur mit ernsthafteren Argumenten als denen, die ihm gewöhnlich begegneten—aber das währte nicht lange. Es war alles so mühsam. Wo war die Selbstherrlichkeit des mündigen Julien Sorel, der bestimmen durfte, was gut für ihn war?

„Mein ganzes Leben wurde zum Tod”, schrieb er später.

Aus dem Roman über das Leben von Charles de Foucauld „Die Spur in der Wüste”, der demnächst im Verlag Styria, Graz, erscheint.

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