6811710-1972_38_03.jpg
Digital In Arbeit

...München, die Golanhöhen und Suez...

19451960198020002020

Die Schüsse von München haben das Nahostproblem wieder in den zentralen Mittelpunkt des Weltinteresses gerückt. Die Vergeltungsschläge Israels gegen Terroristenstützpunkte im Libanon, vor allem aber in Syrien, haben die Krise über Nacht schlagartig verschärft. Es wird wieder scharf geschossen — und das alles zwei Jahre nach Nassers Tod, als der Waffenstillstand und ein neues Kräftespiel nach dem Sowjetabzug aus Ägypten Friedenshoffnungen nährte. Ist der Friede nach der Blutnacht von Fürstenfeldbruck jetzt wieder ferner denn je?

19451960198020002020

Die Schüsse von München haben das Nahostproblem wieder in den zentralen Mittelpunkt des Weltinteresses gerückt. Die Vergeltungsschläge Israels gegen Terroristenstützpunkte im Libanon, vor allem aber in Syrien, haben die Krise über Nacht schlagartig verschärft. Es wird wieder scharf geschossen — und das alles zwei Jahre nach Nassers Tod, als der Waffenstillstand und ein neues Kräftespiel nach dem Sowjetabzug aus Ägypten Friedenshoffnungen nährte. Ist der Friede nach der Blutnacht von Fürstenfeldbruck jetzt wieder ferner denn je?

Werbung
Werbung
Werbung

Als Nasser und Israel die amerikanische Initiative zu einem dreimonatigen Waffenstillstand annahmen, der am 7. August 1970 in Kraft trat, war dies, militärisch gesehen, das Ende des sogenannten „Erschöpfungskrieges'“, den Nasser im März 1969 proklamiert hatte. Anders beurteilen es begreiflicherweise die Ägypter. Sadat sprach in seiner vierstündigen Rede, in der er den Abzug der Russen ankündigte, von einem ägyptischen Erfolg.

Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Das Auftauchen der Russen in Ägypten seit dem Jänner 1970 machte Israels Hoffnung, durch Angriffe auf das ägyptische Hinterland Ägypten zum Frieden zwingen zu können, illusorisch. Dayan wollte jede Konfrontation mit den Russen vermeiden und befahl, die Luftangriffe auf die etwa 60 Kilometer tiefe Kanalzone zu beschränken. Es stimmt auch, daß die verbesserte Fliegerabwehr der russischen Batterien für die Israeli sehr unangenehm war: auch nur 5 Phantomflugzeuge zu verlieren (und mit ihnen zehn Flieger!), war ein schwerer Aderlaß.

Entscheidend für Israels Zustimmung zum Waffenstillstand aber war ein politisches Moment: Nixon akzeptierte damals den Plan seines Außenministeriums, den sogenannten Rogers-Plan, und machte die Lieferung weiterer Flugzeuge (und anderer Waffen) von Israels Zustimmung zu einem Waffenstillstand auf der Basis des Status praesens und von Verhandlungen entsprechend den amerikanischen Vorschlägen abhängig. Golda Meirs Regierung brach über diesem Ultimatum auseinander; Gachal verließ die Koalition, weil die Mehrheit dem Waffenstillstand und den Verhandlungen zustimmte. Da retteten die Russen die Situation; sie schoben ihre Raketenbatterien in die Kanalzone noch in den ersten Stunden des Waffenstillstandes vor und lieferten damit Israel das Argument, solange nicht verhandeln zu können, wie die Batterien nicht wieder zurückgezogen waren. Das geschah natürlich nicht; die Amerikaner mußten (zuerst widerwillig, später nicht ohne Dankbarkeit) Israels Standpunkt akzeptieren. Heute, zwei Jahre später, sind die Amerikaner an einer Wiederaufnahme von Verhandlungen „bis nach den Wahlen im November“ betont desinteressiert.

Das die eine, grundlegende Veränderung der Lage seit dem August 1970. Die zweite betrifft die russische Expeditionsarmee in Ägypten. Zwei Jahre lang beschäftigte Israel, aber auch die NATO und die USA, die Sorge über die russische Infiltration Ägyptens, des Mittelmeeres, des Roten Meeres. Das Hauptproblem des israelischen Generalstabs war es dabei, wie man im Notfall Krieg gegen Ägypten führen könnte, ohne in einen zu harten Konflikt mit den

Sowjets zu geraten. Hauptproblem Washingtons wiederum war es, wis man ein allzu massives Eingreifen der Russen in den drohenden Krieg verhindern konnte. Und siehe da: die Araber selber halfen, diese Probleme zu lösen. Die Russen zogen ab

— zumindest ihre große Mehrheit verließ den Nahen Osten bis auf weiteres.

Nun hat sich gezeigt, daß gerade diese Hartnäckigkeit der israelischen Politik zusammen mit der entschlossenen Unterstützung Jerusalems durch die Waffenlieferung Nixons es war, was den Umschwung herbeigeführt hat. Die Russen sind abgezogen, weil ein Krieg Ägyptens gegen Israel, solange Nixons Politik sich nicht änderte, zu riskant war.

Es ist schwer zu verstehen, warum Ägypten und seine Verbündeten glaubten, Israel ohne russische Hilfe nicht besiegen zu können. Vor zwei Jahren verfügte Nasser bekanntlich außer über seine

— damals auf 500.000 Mann geschätzte — Armee am Suezkanal noch über die sogenannte Ostfront: über Syrien, Jordanien, die (auf mindestens 20.000 Mann geschätzten) Fatah-Mitglieder und das irakische Expeditionskorps von 15.000 Mann, ias in Jordanien und Südsyrien lag. Fleute ist diese Ostfront weitgehend liquidiert: die Iraker sind abgezogen; die Fatah ist (bis auf etwa 3000 Mann im Libanon und Terror-Gruppen in aller Welt) verschwun-ien; Jordanien hat offiziell angekündigt, daß es nicht bereit sei, m einem neuen Krieg gegen Israel teilzunehmen. Damit ist die strategische Lage Ägyptens weniger aussichtsreich als vor zwei Jahren. Israel lat keinen Zweifrontenkrieg zu gewärtigen. Aber anderseits hat Sadat iie Unterstützung Libyens gewon-len und das bedeutet nicht nur 20.000 Soldaten, sondern auch die Mirage-V-Flugzeuge, die Frankreich dem „nicht-kriegführenden“ Sadafi verkauft hat. Mit den Palästinensern und den Libyern verfügt Sadat über eine fast dreilache Ubermacht an Menschenmaterial — warum genügt sie nicht?

Wichtigste Waffe ist heute die Fliegertruppe. Auch hier sind die \raber zahlenmäßig Israel bei wei-;em überlegen. Das Institute for Strategie Studies schätzte Anfang les Jahres Israels Luftwaffe auf 100 Kampfflugzeuge einschließlich ler veralteten Mirage-III und ?iniger noch älterer französischer Modelle, während Ägypten über iOO Maschinen erster Linie und Syrien über deren 200 verfügt. Dazu tommen jetzt noch die (derzeit) vermutlich 18 bis 25 libyschen Mirage-V.

Ägypten hat während der zwei Jahre des Waffenstillstandes von den Russen eine erstklassige Flugabwehr erhalten. In Israel behauptet man, daß es nur rund um Moskau ähnlich dichte Stellungen aller möglichen, einander gegenseitig deckenden Batterien gebe wie am Suezkanal, rund um Kairo und Alexandrien und am Assuan-Damm. Sa-2-Batterien decken gegen hochfliegende Feindflugzeuge, Sa-3 gegen tieffliegende. Sie vermögen israelische Flugzeuge, lange vor dem Erreichen der Kanalgrenze, bereits über dem Sinai abzuschießen. Die Aufstellung dieser Batterien hat Nasser noch erlebt; es war dies die Vorbedingung für die Befestigung des Kanals durch ägyptische Bodentruppen. Die schwere ägyptische Artillerie (etwa 2000 Rohre am Kanal, darunter die russischen Kanonen mit fast 30 Kilometer Tragweite) sollten den Übergang der Truppen decken, während die Raketenbatterien das Eingreifen der israelischen Flieger verhindern würden.

Vielleicht hat der Krieg Husseins gegen die Fatah im September 1970 und hat kurz darauf der Tod Nassers den Plan einer solchen Kanal-überquerung durchkreuzt. Immerhin blieb die Existenz des Raketengürtels am Kanalufer eine schwere Sorge für die israelischen Strategen. Bis vor Jahresfrist schien es fast unmöglich, ohne schwerste Verluste diesen Gürtel zu durchbrechen.

Es scheint, als ob dieses Problem inzwischen gelöst worden wäre. Wenigstens sprechen sowohl Dayan als auch sein Generalstabschef Elazar über die Möglichkeit einer Erneuerung des Krieges in Ausdrücken, die diesen Eindruck hervorrufen. So ließ Elazar Anfang Mai verlauten, daß den Ägyptern „furchtbare Überraschungen“ bevorstünden, wenn sie versuchen sollten, das israelische Hinterland anzugreifen. Und Dayan zwei Wochen später: „Am Kanalufer haben die Ägypter 500.000 Mann massiert. Die Aufgabe unserer Strategie ist, diese Truppen binnen weniger Stunden — nicht binnen weniger Wochen oder Tage sondern binnen Stunden — so zu vernichten, daß sie nicht in ihre zweite Linie zurückweichen können.“

Was das Wort „binnen weniger Stunden“ bedeutet, ist das Rätsel, das Israel heute den Arabern zu lösen aufgibt. Es sei vorweggenommen, daß es sich dabei sicherlich nicht um eine Drohung mit Atomwaffen handelt. Israel könnte sich eine atomare Kriegsführung nicht leisten .. .

Die überraschendste Änderung hat sich zweifellos in Jordanien vollzogen. Noch vor zwei Jahren schien es, als ob die Tage des hasche-mitischen Königreiches gezählt seien. Sogar nach den ersten Kämpfen zwischen den königstreuen Beduinensoldaten und den Freischärlern, die mit Siegen der Beduinen endeten, prophezeite jedermann das baldige TCnHp Hpr . klpinpn“

Königs, Nassers Tod befreite Hussein vom ägyptischen Druck. Er nahm, mutig wie stets, den Kampf gegen die „Helden der palästinensischen Revolution“ auf und riskierte dabei sogar den Einmarsch einer syrischen Panzerbrigade in Jordanien. Aber Israel zog damals seine Panzer an der Grenze zusammen — und die Syrer bliesen zum Rückzug.

Man spricht in Israel ganz offen davon, daß im Falle einer syrischen Invasion Jordaniens nichts übrig bleiben würde, als Jordanien zu besetzen, um so den Syrern zuvorzukommen. Dergleichen möchte Israel begreiflicherweise vermeiden. Unterdessen aber herrscht Ruhe am Jordan, und König Hussein begnügt sich, seine Ansprüche auf das Westufer des Jordan immer wieder anzumelden.

Unverändert gering blieben indessen die Aussichten auf Frieden. Syrien redet überhaupt nicht über eine solche Möglichkeit; es verlangt nach wie vor die Liquidierung Israels. Denselben Standpunkt nehmen die palästinensischen Terrorverbände ein. Ägypten hinwiederum verlangt, als Preis für ein Friedensabkommen, nach wie vor die Rückgabe aller 1967 von Israel eroberten Gebiete, einschließlich Jerusalems. Jordanien ist ebenfalls an einem Frieden nicht interessiert. König Hussein hat gar kein Bedürfnis danach, die Zahl der ihm feindlichen Palästinenser noch um die etwa 650.000 arabischen Einwohner von Judäa und Samaria zu vermehren.

Israel wieder kann unter solchen Umsätnden alle Reden über Friedensabmachungen gar nicht ernstnehmen, soll es doch für die Rückgabe strategisch wichtigster Gebiete (im Sinai schöpft Israel überdies sechs Millionen Tonnen Petroleum) nichts bekommen als das Versprechen, daß man seine alten Grenzen „anerkennen“ wolle. So ist erklärlich, daß Dayan einmal sagte, ihm seien sichere Grenzen ohne Frieden lieber als ein Friede ohne sichere Grenzen. Deshalb auch lehnt Israel es ab, mit Dr. Jarring auf der Basis eines Rückzuges auf die Vorkriegslinien zu verhandeln und besteht darauf, daß Sadat zur Kenntnis nehmen muß, daß er nur einen Teil des Sinai, aber nicht den ganzen Sinai zurückerhalten kann.

Der einzige Ausweg aus dieser Situation wäre die „Teillösung“ oder „Zwischenlösung“, die auch von den USA empfohlen wird.

Israel wäre demnach bereit, sich vom Kanalufer zurückzuziehen, die dort unter riesigen Kosten errichteten Befestigungen zu verlassen und die Wiederaufnahme des Schiffsverkehrs im Kanal zu gestatten — ohne andere Bedingungen, als daß das östliche Kanalufer nicht von ägyptischen Truppen besetzt werden darf. Diesem Vorschlag Dayaris liegt der Gedanke zugrunde, daß die Aufnahme des Schiffsverkehrs im Kanal die Möglichkeit eines plötzlichen ägyptischen Angriffs ausschließen müßte. Für Sadat wäre die Kanaleröffnung ein politischer Erfolg und im übrigen bliebe alles beim alten. Aber Ägypten hat diese Lösung bisher abgelehnt; Rückzug der Israelis vom Kanal — ja; aber erstens müsse Ägypten dann das Recht erhalten, sofort Truppen auf das israelische Kanalufer zu bringen und zweitens müsse sich Israel verpflichten, binnen kurzer Zeit den Rest des Sinai zu räumen.

Dazu wieder verweigerte Israel seine Zustimmung. Die Waffenruhe, die ihm da angeboten wurde, hatte es unterdessen ohnedies und auf einen Rückzug in Etappen läßt es sich nicht wieder ein.

Eine weitere Schwierigkeit bietet der einstmals von Ägypten besetzt gehaltene Gaza-Streifen, ein kleiner, halbwüster, aber strategisch besonders wichtiger Landstrich. Er war schon zur Zeit der Kreuzfahrer der gefährliche Brückenkopf Ägyptens auf palästinensischem Gebiet; er war es nach 1948 aufs neue. Auf diesem Streifen leben heute etwa 350.000 Araber, davon 200.000 „Flüchtlinge“, Bewohner der für sie eigens errichteten, sehr armseligen Wohnviertel. Diese Flüchtlinge waren bisher das Reservoir, aus dem die Terrorverbände ihre Rekruten schöpften. Sie terrorisierten weniger die Israeli als ihre eigenen arabischen Mitbürger, und erst seit etwa einem Jahr ist ihre Macht gebrochen.

Die Israeli haben nicht die geringste Lust, den Ägyptern die Möglichkeit zu bieten, wieder diese Hunderttausende aufzuhetzen und sie zu neuen Kampf verbänden zu organisieren. Rund um den Streifen, aber auch in seiner Mitte, werden jetzt jüdische Dörfer angelegt, was erfahrungsgemäß am meisten Sicherheit garantiert. Außerdem wird ein Hafen gebaut, ein Industrieviertel entsteht, kurz: Israel tut im Gaza-Streifen jetzt das, was Ägypten dort 18 Jahre lang versäumt hat.

So scheint es, als seien die Gegensätze nach wie vor unüberbrückbar. Der russische Abzug hat daran nichts geändert, und die geplante Vereinigung Ägyptens mit Libyen kann die Gegensätze nur versteifen. Die Russen sind nicht mehr da, um Ägypten vor Abenteuern zurückzuhalten.

Ganz abgesehen von den palästinensischen Terroristen, die vor nichts zurückschrecken und deren erstes Ziel ja der heiße Krieg der Araber gegen Israel ist. Noch ein München — und niemand kann sagen, ob ihnen das nicht gelingt...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung