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„Münchhauseniade“ von Parteien und Parlament

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Es ist ein offenes Geheimnis, daß gegen den Zwentendorfbeschluß verfassungsrechtliche Bedenken bestehen. In der Öffentlichkeit aber werden diese Bedenken nicht offen dargelegt. „Volk“ und „Verfassung“ sind je ein Tabu und machen zusammen keine Öffentlichkeit. „Volk und Verfassung“ bringt in der Politik nichts ein. In der Verfassung ist nicht viel vom Volk die Rede, und im Volk ist nicht viel von der Verfassung die Rede. Die politische Klasse weiß, daß das Volk wenig über die Verfassung weiß. Weiß es aber hur wenig/so soll es auch nicht mehr darüber wissen. Darier werden die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Zwentendorfbeschluß nicht öffentlich diskutiert.

Die Mehrheit der Verfassungrechtler dürfte der Meinung sein, daß die eine oder andere Vorschrift verfassungswidrig ist Was diese Mehrheit meint, muß freilich nicht die Mehrheit der Verfassungsrichter entscheiden. Wissenschaftler, die erkennen und bekennen sollen, sind nicht Richter, die entscheiden müssen. Solange der Verfassungsgerichtshof nicht über die „Lex Zwentendorf zu Recht erkannt hat, weiß man nicht, ob das Gesetz verfassungswidrig ist.

Man darf und kann aber der Meinung sein, daß die Verfassungsmäßigkeit des Zwentendorfbeschlusses zweifelhaft ist. Denn: durch Paragraph 1 beauftragt sich der Nationalrat zur Erteilung einer Erlaubnis in bezug auf die Inbetriebnahme von Kernkraftwerken. Durch Paragraph 2 wird die Erlaubnis für die Inbetriebnahme von Zwentendorf erteilt. „Erlaubnis“ bedeutet dem Namen und der Sache nach einen individuell-konkreten Vollzugsakt. Erlaubnis bedeutet eine normative Regelung einer konkreten Verwaltungsangelegenheit gegenüber einer individuell bestimmten Person.

Der Nationalrat kann nach der Verfassung grundsätzlich nur generelle Normen in Gesetzesform erlassen. Durch Paragraph 1 ermächtigt er sich aber zur Erlassung eines individuellkonkreten Vollzugsaktes in Gesetzesform; Paragraph 2 ist ein solcher Vollzugsakt. Er ist sowohl ein Einzelperson- als auch ein Einzelfall-Gesetz, ein Individualgesetz. Gesetze nach dem Bundesverfassungsgesetz (BVG) sollen sich grundsätzlich an die Allgemeinheit wenden und einen generellen Charakter haben. Hier liegt ein Individualgesetz vor, kein Gesetz im Sinne der Verfassung.

Selbst wenn man der Auffassung ist, daß die Verfassung ausnahmsweise Individualgesetze erlaubt, ist der Gesetzesbeschluß verfassungsrechtlich bedenklich. Denn jene Voraussetzungen, die vielleicht ein solches Gesetz ausnahmsweise sachlich rechtferigen würden, liegen hier nicht vor. Damit

verstößt der Gesetzesbeschluß gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitsgrundsatz. Er verletzt den Grundsatz der Allgemeinheit und Generalität des Gesetzes. Das fertige Gesetz wäre als Individualgesetz und Ermächtigung zu Individualgesetzen kein Gesetz im Sinne der Verfassung.

Durch den G*esetzesbeschluß räumt sich der Nationalrat eine Mitwirkung an der Vollziehung des Bundes ein. Es liegt aber kein Fall der von der Verfassung vorgesehenen Mitwirkung des Nationalrates..andcr Vollziehung vor. Dein Nationalrat, steht ein Recht, zur unmittelbaren oder auch nur mittelbaren Mitwirkung an der Vollziehung ausnahmsweise und ausschließlich in den Fällen und Formen zu, welche die Verfassung bestimmt. Durch einfaches Bundesgesetz kann ihm ein solches Recht nicht übertragen werden; kann ein solches Recht von ihm nicht ausgeübt werden. Der Gesetzesbeschluß weist zum Teil Angelegenheiten der Vollziehung dem Nationalrat zu, zum Teil ist er ein Vollzugsakt. Sowohl bei der Erlassung einer individuell-konkreten Rechtsnorm in Geset-

zesform nach Paragraph 2 als auch bei der Ernächtigung zur Erlassung einer solchen Rechtsnorm nach Paragraph 1 nimmt der Nationalrat eine Zuständigkeit in Anspruch, die ihm nach der Verfassung nicht zusteht.

Überdies wird aber auch der verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechtsschutz ausgeschaltet. Es besteht ein Widerspruch zum Grundsatz des umfassenden Rechtsschutzes, den das Sechste Hauptstück des BVG einräumt, und zum Grundsatz, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Es besteht aber auch ein Widerspruch zum Grundsatz der Amtshaftung. Damit sind einige Bedenken aufgezählt.

Wer bei der Volksabstimmung mit .ja“ stimmt, stimmt nicht nur für die Inbetriebnahme von Zwentendorf, sondern auch für ein verfassungsrechtlich bedenkliches Gesetz; stimmt aber nicht nur für die Inbetriebnahme und für ein verfassungswidriges Gesetz, sondern auch dafür, daß sich hinsichtlich der Möglichkeit der Inbetriebnahme von Kernkraftwerken in Österreich grundsätzlich nichts ändert, außer, daß jeweils „eine durch Bundes-

gesetz zu erteilende Erlaubnis aus gesamtstaatlicher, volkswirtschaftlicher und energiepolitischer Sicht, sowie unter Bedachtnahme auf Gesichtspunkte technischer und gesundheitlicher Sicherheit“ erforderlich ist. Auch über diese „Sicht und Bedachtnahme“ muß das Volk abstimmen. Mit der Frage, ob alle diese Voraussetzungen vorliegen, ist das Volk überfragt. Eine Wissensfrage wird zur Gewissensfrage.

Die vom Nationalrat einstimmig beschlossene Volksabstimmung ist ein Umweg- von der Exekutive über die Legislative zum Volk. Sie ist der Ausweg der politischen Parteien nach dem Motto: Die Regierung ist gut, das Parlament ist besser, das Volk ist am besten. Die an sich für die Inbetriebnahme eines Kernkraftwerkes zuständige Vollziehung ging ins Parlament, obwohl dieses ohne Kompetenz für eine rechtliche Entscheidung in der Frage ist. Eine Einigung der im Nationalrat vertretenen Parteien kam nur insofern zustande, als der Beschluß über die Volksabstimmung einstimmig gefaßt wurde. Der Zwentendorfbeschluß kam nur von der Regierungspartei.

Einstimmig aber muten die Parlamentsparteien dem Volk zu, über Fragen abzustimmen, wozu ihm Informationen fehlen, über einen Gesetzesbeschluß abzustimmen, dessen Verfassungsmäßigkeit nicht außer Streit und Zweifel steht. Es ist ein Ziel der Verfassung, politische Streitigkeiten in Rechtsstreitigkeiten umzuwandeln. Hier-war es die Tendenz der Politik, die Entscheidung in einem verwaltungsrechtlichen Fall durch politischen Maximalkonsens zu legitimieren. Die Volksabstimmung ist insofern die „Münchhauseniade“ der Parlamentsparteien. An sich ein Stiefkind der Politik, Wurde die direkte Demokratie zum Liebkind im konkreten Fall. Mit der Volksabstimmung über ein verfassungsrechtlich bedenkliches Gesetz ist aber niemandem gedient.

Die verfassungsrechtlichen Bedenken sind nicht dadurch ausgeräumt, daß der Beschluß über die Volksabstimmung einstimmig gefaßt wurde, sie werden auch nicht dadurch saniert, daß der vom Volk gewählte Bundespräsident die Volksabstimmung anordnet, sie werden auch nicht dadurch aufgehoben, daß das Volk „ja“ sagt. Ohne Zweifel sind aber alle diese drei Akte eine gewisse psychologische Belastung für den Verfassungsgerichtshof für den Fall, daß er über die Verfassungswidrigkeit der „Lex Zwentendorf“ einmal zu erkennen hätte. Die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen oder beeinflussen auch Richter. ... •*l!K, ■ •'

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