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MULTIKULTURALITAT UND NATIONALISMUS

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Es war im Hochmittelalter, als König Stephan von Ungarn kundtat, „schwach und vergänglich ist ein Reich, in dem nur eine Sprache gesprochen und einerlei Recht gilt" (nam unius lingue uniusque moris regnum inbecille et fragile est). Einer seiner Nachfolger, Geisa II. mit Namen, der in der Hohen Tatra und am Karpaten-bogen Siedler aus dem Rheinland, aus Franken, Flandern, Luxemburg, Thüringen und Niedersachsen angesiedelt hatte, erkannte, „daß einwandernde Gäste verschiedene Sprachen und Sitten, verschiedene Lehren und Waffen mit sich bringen, die alle Reiche und den königlichen Hof schmücken und erhöhen". Die Feudalgesellschaft kannte Nationalismus im heutigen Sinn nicht. Die Trennungslinien verliefen entlang von König (Landesherr) und Volk, Herrschaft und Untertan, Adel und Bauern. Und noch im Merkantilismus galt den aufgeklärten Despoten des 18. Jahrhunderts: Ubi populus, ibi obulus (Wo Volk ist, gibt es auch Steuern). Welche Sprache dieser „populus" verwendete, war nicht unwichtig, aber auch nicht vordringlich. Militärische und wirtschaftliche Überlegungen führten in Mittel- und Osteuropa immer wieder zu einer Siedlungs- und Kolonisationspolitik, deren Ergebnis im ausgehenden 18. Jahrhundert ein ethnischer Fleckerl-leppich war.

Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter des aufsteigenden Nationalismus. Die Idee ethnisch- sprachlich homogener Nationalstaaten stand damit im Widerspruch zum Gedanken der Dynastie und zur staatsnationalen Idee des Hauses Österreich. Im Vielvölkerstaat Österreich führte dies zu tiefgreifenden Konflikten, die letztlich zur Auflösung des Reiches führten. Der Erfolg der ungarischen Nationalbewegung, sichtbar im österreichisch- ungarischen Ausgleich von 1867, schlug die entscheidende Bresche in die Auf-fassungeinermultiethnischen Gesamtmonarchie. Der deutsch- tschechische Konflikt blieb indes unbehandelt, bis ihn 1897 der österreichische Ministerpräsident Badeni durch Sprachenverordnungen zu entschärfen versuchte. Dies führte zum heftigen Widerspruch derjenigen, die die deutsche Vormachtstellung bedroht sahen, zu Straßenschlachten undeiner Rücknahme der Verordnungen. Ungeachtet einzelner Ausgleichs-Versuche waren am Vorabend des Ersten Weltkriegs schließlich weder die tschechische, polnische, südslawische noch die italienische Frage einer Lösung nahe gebracht worden. Bastionen des staatspolitischen Österreichertums waren bis zuletzt die Bürokratie, Offiziere, ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung, schließlich einTeil des Adels, der Hof und die Krone. Wenn wir heute Otto Habsburg in Budapest Ungarisch parlieren und Karl Schwarzenberg in Prag als Kabinettschef des tschechischen Präsidenten agieren sehen, so sind dies die Rudimente einer ehemals breiteren supranationalen Identität.

Die Volkszählungen, bei denen in Österreich unter einem gewissen Druck nach nur einer, unklar definierten Umgangssprache gefragt wurde, spiegeln die Zusammensetzung der Wiener Bevölkerung nur undeutlich wieder. Die Geburtsorte zeigen aber ein klareres Bild. Um 1900 stammten bei einer Gesamtbevölkerung von 1.670.000 Einwohnern rund 410.000 Personen aus Böhmen und Mähren, davon 300000 Personen aus mehrheitlich tschechischsprachigen Bezirken, 43.000 aus mehrheitlich slowakischsprachigen, 11.000ausmehrheitlich kroatischsprachigen Regionen der ungarischen Reichshälfte, 90.000 aus den anderen Komitaten Ungarns, 37.000 aus Galizien, 37.000 aus dem Süden der Monarchie, dazu kamen noch tausende aus kleineren Minderheiten, etwa im Stadtbild präsente Hausierer- und Händlerminderheiten mit einer spezifischen Kultur, zum Beispiel die Gottscheeraus Krain, Italiener, Bulgaren, Griechen oder Türken. Dazu ist die zweite Generation nach den Zuwanderern zu rechnen, die sehr oft ebenfalls Sprach- und Kulturkenntnisse aus der Heimat ihrer Eltern besaßen. Ein wesentlicher Bevölkerungszustrom kam von der jüdischen Bevölkerung. Sie stellten durch ihren starken Anteil am kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Leben eine Besonderheit Mitteleuropas dar. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wanderten Zehntausende aus dem Norden und dem Osten der Monarchie in Richtung Wien und Budapest. Die ungarische Hauptstadt war 1910 mit 203.000 jüdischen Einwohnern die zweitgrößte, Wien mit 175.000 die drittgrößte jüdische Stadt Europas.

Aus Hunderten Vereinen, Treffpunkten in Kirchen, Synagogen und Bethäusem, Geschäften, Gasthäusern und anderen informellen Plätzen bestand die Infrastruktur dieser Minderheiten. Dies machte Wien zu einem Mosaik, zu einer Stadt, die durch die Koexistenz unterschiedlicher ethnischer Gruppen geprägt war. Nach der amtlichen Statistik war Wien die zweitgrößte tschechische Stadt Europas. Die Position überregionaler Zentren eines Vielvölkerstaates führte auch bei anderen Städten zu Multikulturalität: Krakau, Czernowitz, Triest, Prag. Die ungarischen Sprachzählungen, die im Gegensatz zur österreichischen Reichshälfte auch die Sprachkenntnisse erhoben, zeigen das Bild einer mehrheitlich gemischtsprachigen Bevölkerung: inPreßburg/Pozsony/Bra-tislava waren zur Jahrhundertwende mehr als zwei Drittel der Einwohner doppel- und dreisprachig, in Budapest 54 Prozent.

In allen Großregionen der Monarchie war bereits seit den achtziger Jahrendes 19. Jahrhunderts die Majo-risierung der in der Minderheit befindlichen Ethnien im Gange. Eine offizielle Darstellung hielt 1913 fest: „Hinsichtlich der Volksmischung steht die Wiener Bevölkerung unter den Bevölkerungen der europäischen Weltstädte ganz einzigartig da. Denn während in London, Paris und Berlin die Zuwanderung aus dem Inlande, neben welcher die Auslandsfremden keine Rolle spielen, homogene Bevölkerungselemente bringt, hat Wien Jahr für Jahr eine sehr große Zahl national und sprachlich verschiedener Elemente zu assimilieren." Auf kommunaler Ebene wurde zur Spätgründerzeit in Wien eine Politik gegenüber tschechischen Ansprüchen durchgeführt, deren wesentliche Punkte waren: Nichtanerkennung der Wiener Tschechen als nationale Minderheit, Verweigerung desÖffentlich-keitsrechts für tschechische Schulen und die Verpflichtung der Neubürger bei Ablegung des Eides auf die Gemeindestatuten, den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrechtzuerhalten. Bei einer halben Million slawischstämmiger Bevölkerung wurde von den Bürgern ein Schwur auf den deutschen Charakter verlangt, wobei die Auslegung eine extreme war. Die Mitgliedschaft in einem tschechischen Sparverein wurde als Verletzung des Gemeindestatuts interpretiert. Der Hegemonialanspruch und die Assimilationsbestrebungen der Magyaren wurden in Ungarn noch schärfer ausformuliert. In Prag, Budweis oder Brünn hingegen war die Tschechisierung der Bevölkerung in Gang geraten. Die großen Städte und auch die kleinen Industrieorte wurden zum Schmelztiegel, die Assimilation zum Massenphänomen.

In der Ära Kaiser Franz Josephs war Wien eine zwar mehrheitlich deutschsprachige, aber doch auch eine multikulturelle Stadt, mit ethnischer, religiöser und kultureller Vielfalt. Dem stand ein starker Assimilationsdruck und eine zielgerichtete Assimilationspolitik auf kommunaler Ebene gegenüber. Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert haben sich in Wien und anderen österreichischen Städten Hunderttausende in den verschiedensten Ausprägungen assimiliert und akkulturiert. Das Wien der Jahrhundertwende war beides: Mosaik und Schmelztiegel.

Wenn wir von Multikulturalität sprechen, so ist zu bedenken: Der Begriff bezeichnet die mehrfache Existenz von Kulturen, von unterschiedlichen ethnischen, sprachlichen und kulturellen Identitäten in einem begrenzten Territorium. Er hat damit vorerst eine rein deskriptive Komponente. Der Begriff enthält die hierarchische Tendenz, die der Vielfalt von Sub- und Teilkulturen zu eigen ist, nicht. Er nährt die Vorstellung, daß diese Sub- und Teilkulturen gleichberechtigt seien. Das sind sie im franzisko- josephi-nischen Wien nicht gewesen. Die Hegemonie lag bei der Mehrheitsidentität Deutsch(österreichisch)-Katho-üsch, die ihren Anspruch gegen die in der Hierarchie folgenden Minderheiten durchzusetzen trachtete. Davon zeugt ein teilweise ethnisch segmentierte Arbeitsmarkt, wobei die Kennziffer von 92,3 Prozent Zuwandereranteil bei einer der untersten Berufsschichten, den Dienstboten, davon 50,6 Prozent aus Böhmen und Mähren, nureinen Hinweis liefern soll. Im gleichen Atemzug sind der Anpassungsdruck und die Diskriminierung des „Behm" und „lud" im Alltagsleben zu nennen. Die Qualität der Beziehungen zwischen den verschiedenen Kulturen waren von Machtansprüchen und Ungleichheit geprägt.

Wien um 1900 war in mehrerlei Hinsicht geprägt von Ambivalenz, so trug nicht nur, aber auch der Gegensatz Mosaik - Schmelztiegel zur Widersprüchlichkeit der Stadt bei. Vielsprachigkeit und Überregionali-tät auf der einen, standen Nationalismus und Lagerdenken auf der anderen Seite gegenüber. Diese ambivalente Konstellation führte zur Ausbildung eines vielgerühmten kreativen Milieus. Dies wirkte sich auch auf die damals lebenden Individuen aus. Die neuen Trends kollidierten mit den alten Realitäten. Zeitgeist und Lebensgefühl ließen Mehrfachloyalitäten nicht zu, sondern steuerten die Richtung eines Entweder - Oder. Ein massiver Anpassungsdruck und partielle Persönlichkeitskrisen kennzeichneten die Situation für breite, ursprünglich gar nicht so eindeutig national zuorden-bare Bevölkerungskreise. „Wir besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an", formulierte der Wiener Schriftsteller Hugo von Hoffmanns-thal, aus Familien mit jüdischem, schwäbischen und italienischen Anteilstammend. 1900 war nicht nur die Zeit der Staatskrise der alten Monarchie sondern auch die Zeit der Krise der Persönlichkeit.

Der Autor ist Assistent am Institut für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Linz.

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