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Musik am Genfersee

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Wir möchten diesen Bericht über das Herbst-Musikfestival von Montreux-Vevey mit einigen Zahlen einleiten. Diese sind für uns nicht nur interessant, sondern könnten auch eine gewisse „pädagogische” Wirkung haben, da hier nämlich ein Exempel dafür aufgestellt wurde (und dies seit nunmehr bald 30 Jahren), wie mit einem Minimum von Mitteln ein Maximum von hochgradigen künstlerischen Leistungen bei lebhaftester Publikumsbeteiligung erzielt werden kann.

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Wir möchten diesen Bericht über das Herbst-Musikfestival von Montreux-Vevey mit einigen Zahlen einleiten. Diese sind für uns nicht nur interessant, sondern könnten auch eine gewisse „pädagogische” Wirkung haben, da hier nämlich ein Exempel dafür aufgestellt wurde (und dies seit nunmehr bald 30 Jahren), wie mit einem Minimum von Mitteln ein Maximum von hochgradigen künstlerischen Leistungen bei lebhaftester Publikumsbeteiligung erzielt werden kann.

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Dem auch in Wien nicht unbekannten Dirigenten Renė Klopfenstein steht als dem künstlerischen Leiter dieses Festivals ein Gesamtbudget von insgesamt 700.000 Franken, das sind rund 4,400.000 Schilling, zur Verfügung. (Der Vergleich hinkt nach allen Seiten: aber den gleichen Betrag geben wir innerhalb von vier Tagen für unsere Staatsoper aus, und in Montreux bestreitet man damit 24 Veranstaltungen.). — Die Geldgeber sind: Die Stadt Montreux mit etwa 100.000 Franken, alles übrige stiften große Schweizer Banken sowie private Mäzene, aber auch mehrere kleinere kantonale Geldinstitute beteiligen sich an der Subventionierung.

Die Hälfte der Ausgaben entfällt auf Künstlerhonorare, die andere auf die Administration. Wenig Geld kosten der Internationale Flötenwettbewerb, der heuer zum fünften Mal abgehalten wurde, der vor kurzem nach Montreux übersiedelte Clara- Haskil-Concours sowie der vielbegehrte „Prix mondial du disque”: alles Wettbewerbe, die zum Renommee von Montreux sehr wesentlich beitragen, aber, wie bereits erwähnt, aus anderen Quellen gespeist werden. Daher seien an dieser Stelle nicht die zahlreichen preisgekrönten Schallplatten, sondern nur der Träger des alljährlich verliehenen Ehrendiploms genannt, er heißt Dr. Karl Böhm, und sein Bild prangt in sämtlichen Foyers von Montreux und Vevey sowie in zahlreichen Aus- lagenfenstem — so ähnlich, wie man das ja auch in Salzburg macht.

Aber ansonsten ist vieles, ja fast alles, was man in administrativer

Hinsicht in Montreux tut, anders als in Salzburg und in einigen anderen Festspielstädten. Daher müssen wir noch einige weitere Zahlen nennen, auf die Gefahr hin, unsere Leser ein wenig zu langweilen. Die Hälfte der Gesamtausgaben kommt durch den Kartenverkauf wieder herein, also rund 350.000 Franken. Die Besucher stammen etwa zu 25 Prozent aus Montreux und Vevey, zu 30 Prozent aus dem eine knappe Autostunde entfernten Lausanne und zu 20 Prozent aus Genf, — nur das restliche Viertel sind auswärtige bzw. ausländische Gäste, die hier am Nordufer des Genfersees ihren Herbsturlaub verbringen. — Und noch etwas soll nicht unerwähnt bleiben: Überschreitet der verantwortliche künstlerische Leiter und Administrator sein Budget, so muß er das Defizit im nächsten Jahr einbringen. Da hilft kein Singen und kein Beten in der Kirche von St. Martin, wo zwei Orgelabende von Karl Richter und Marie-Claire Allain, Schwester des allzu früh verstorbenen Komponisten, stattfanden (Beide Künstler spielten ausschließlich Werke von J. S. Bach, wobei Karl Richter sehr angenehm durch sparsame und diskrete Registrierung auffiel, die wir bei seinen Wiener Konzerten manchmal schmerzlich vermißten.)

Wer ein so genau bemessenes Budget hat und nicht Pleite machen will, muß sein Programm dem Publikum anpassen, das Abend für Abend die Säle fast immer bis auf den letzten Platz füllt. Montreux und Vevey besitzen nämlich eine unverhältnismäßig große Anzahl von bespielbaren Räumlichkeiten: Den großen Saal des im Vorjahr fertiggestellten neuen Kongreßhauses von Montreux, den ebenfalls weiträumigen „Pavillon” mit zwar verbesserter, aber immer noch nicht idealer Akustik, das kleine alte Theater von Vevey und die bereits erwähnte Kathedrale St. Martin von Vevey, das Schloß Chillon, eines der photogensten der Schweiz, und, in diesem Jahr zum ersten Mal zur Verfügung gestellt, den Fes’tsaal des berühmten Hotels „Montreux-Palace”, einen der prunkvollsten Hotelbauten des 19. Jahrhunderts, wo Visconti einmal einen Film drehen sollte und wo seit etwa 15 Jahren Wladimir Nabokow mit seiner Frau eine Suite bewohnt, ein Autor übrigens, der nicht nur „Lolita” geschrieben hat, die ihn zum schwerreichen Mann machte,

sondern auch noch einige andere Bücher, die der Aufmerksamkeit reifer Leser empfohlen seien. Erwähnen wir schließlich auch noch das vermutlich aus dem 18. Jahrhundert stammende kleine, intime Kellertheater im Vieux-Quartier von Montreux, wo im vergangenen Jahr eine rekonstruierte Soiree bei George Sand stattfand und wo heuer Elisabeth Dillenschneider, begleitet von der perfekten Pianistin Brigitte Meyer einen Schubert-Schumann- Liederabend gab und der Inder Ram Chandra Mistry Musik seiner Heimat spielte.

Die Programme der 24 Konzerte, die um Bach, Beethoven und deren Zeitgenossen zentriert waren, kann man also als konservativ bezeichnen. Doch muß gleich hinzugefügt werden (das mag man positiv oder negativ bewerten), daß das jugendliche Publikum diese relativ preiswerten Veranstaltungen immer häufiger besucht. Denn was die Qualität der Darbietungen betrifft, so blieb auch für den kritischen Hörer kaum ein Wunsch offen. Innerhalb eines Monats marschierten hier die folgenden großen und kleineren internationalen Ensembles auf: Das „Menuhin Festival Orchestra” mit Yehudi Menuhin als Dirigenten und Solisten; das „Los Angeles Philharmonie Orchestra” unter Zubin Mehta mit einem reinen Beethovenprogramm; zwei Abende bestritt das „Sydney Symphony Orchestra”, dessen erste Europatournee der Leiter des Festivals von Montreux angeregt hatte. Die Australier, die vor kurzem auch in Wien zu hören waren, spielten unter dem Dirigenten Willem van Otterloo und Charles Mackerras. Der Referent konnte leider nur das Konzert unter dem Letztgenannten hören, auf dessen Programm eine prachtvoll-sonor klingende Meistersinger-Ouvertüre und die 4. Symphonie von Brahms das Klarinettenkonzert von Mozart einrahmten, welches in Donald Westlake einen überaus virtuosen Interpreten fand.

Von kleineren Ensembles sei zunächst das „Kölner Kammer-Orchester” genannt, das unter seinem ständigen Leiter Helmut Müller-Brühl zwei Bach-Konzerte absolvierte. Das „Wiener Kammerorchester” unter Carlo Zecchi in der ersten Festivalwoche konnte ich leider nicht hören, aber man sprach darüber noch nach mehreren Tagen. Von vergleichbarer Qualität war, nach dem Urteil des Publikums, das „Solistenorchester der Berliner Philharmoniker”. Im Konzert des „Ensembles Divertimento Hamburg”, vom Primgeiger geleitet, beeindruckte nicht nur die überaus präzise Ausführung, sondern auch das Raritätenprogramm: ein Quartett von Pleyel, eine Beethouen-Triosonate, Mozarts Duo für Violine und Bratsche (KV 424) sowie dessen Quartett für Flöte und Streichinstrumente.

Das „Beaux Arts Trio New York” nennen wir von den ausländischen Ensembles als letztes, denn ihm gebührt für seinen Vortrag dreier technisch und geistig gleichermaßen höchst anspruchsvoller Beethoven- Trios der erste Preis. Während dieses Konzerts wanderten die Gedanken des Referenten besonders häufig und intensiv zu Wilhelm Furtwängler, der sich bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Villenvorort von Montreux, nämlich in Clarence, niedergelassen hatte. Und ich dachte an den großen Dirigenten nicht nur, weil in der ersten Reihe Furtwäng- lers ‘Witwe neben der Frau des Malers Oskar Kokoschka saß, dessen schlohweißes Haupt das ganze Parkett überragte, sondern weil man das Gefühl hatte, daß mit diesen Künstlern (Menanen Pressler, Isidore Cohen und Bernard Greenhouse) Wilhelm Furtwängler, der doch so gern Kammermusik von Beethoven spielte, mit Vergnügen zusammen musiziert hätte.

Für den aus dem Ausland zugereisten Gast, der in der Lage wäre, einen ganzen Monat hier zu verweilen, böte das Musikfest von Montreux-Vevey auch Gelegenheit, eine ganze Reihe Schweizer Ensembles und Solisten kennenzulemen. So gab das Basler Symphonieorchester unter den Dirigenten Alfred Walter, Renė Klopfenstein und Rainer Miedet drei Beethoven-Konzerte, bei denen Richard Goode, Henryk Szeryng und Gėza Anda mitwirkten. Je einen Abend bestritt das „Collegium aca-

demicum Genėve” unter Robert Durand und die „Camerata Bern” mit Werken von Vivaldi, L ocatelli, Johann Sebastian Bach und Philipp Emanuel Bach. In den Instrumentalkonzerten der beiden letzteren wirkten Alexander von Wijnkoop und der auch als Komponist bekannte Heinz Hollinger, ein ganz vorzüglicher Oboist, mit.

Was dem kritischen Besucher fehlte, war die Begegnung mit Schweizer Komponisten und ihren Werken, besonders natürlich mit neueren. Hierfür wurde und wird bereits fürs nächste Jahr gespart. Es soll, nach der Absicht des künstlerischen Leiters, zwei bis drei Konzerte mit neuen Werken geben, und hierfür werden drei Kompositionsaufträge an Schweizer Komponisten erteilt. Bereits an einem der letzten Abende des heurigen Festivals wurden Prospekte für das 30. Festival angebo- ten, das vom 31. August bis 6. Oktober 1975 dauern soll und für das Orchester aus Cleveland, Osaka, Moskau und Hamburg eingeladen wurden. Bonne chance!

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