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Musiktherapie ersetzt Psychopharmaka

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Ein österreichischer Jazzmusiker entdeckte, daß vor allem das Schlagzeug therapeutische Effekte für Behinderte hat und gründete eine international erfolgreiche Behinderten-Band.

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Ein österreichischer Jazzmusiker entdeckte, daß vor allem das Schlagzeug therapeutische Effekte für Behinderte hat und gründete eine international erfolgreiche Behinderten-Band.

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Besucher von Jazz- und Rockkonzerten wissen: Wenn es „groovt",kann sich kaum jemand den rhythmischen Grundschwingungen entziehen, die aus einer Gruppe musizierender Individualisten eine Gruppe machen und sich unweigerlich dem Zuhörer mitteilen. Auf diesem schwer beschreibbaren Phänomen hat Josef B. Schörk-mayr, Jazzmusiker mit Hochschuldiplom, eine Musiktherapie aufgebaut, die er seit Jahren mit unübersehbarem Erfolg an Schwerstbehinderten praktiziert. Die von ihm entwickelte Therapie findet bereits in mehrfacher Hinsicht Anerkennung.

Diese Anerkennung drückt sich unter anderem in zahlreichen Einladungen zu Vorträgen und Workshops aus. Schörkmayr wird regelmäßig von Universitäten und Behinderteninstitutionen in die USA geholt, wo die von ihm entwickelten und weltweit patentierten elektronischen Musikinstrumente bei Theoretikern und Praktikern der Behindertenarbeit große Beachtung finden. Die serienmäßige Produktion eines Keyboards „made in Austria" soll noch in diesem Jahr aufgenommen werden. Daneben zeigen auch Institutionen in Kanada und Japan Interesse an Lizenzen.

Der augenfälligste Beweis für den Erfolg der „Integrativen Musiktherapie", die auch als „No-problem-Therapie" bekannt wurde, ist aber das „no problem orchestra", in dem Mongo-loide, Spastiker und Hirngeschädigte, durchwegs Schwerstbehinderte im Erwachsenenalter, musizieren. Sie absolvierten als Gruppe bereits mehr als 400 öffentliche Auftritte, darunter zahlreiche in Übersee; ihre musikalischen Leistungen lösten an vielen Orten stürmische Begeisterung aus.

Schörkmayrs Theorie steht in deutlichem Gegensatz zu bisher gebräuchlichen Therapieformen. Sie beruhtauf der Erkenntnis, daß gerade in schwerstbehinderten Menschen oft ein enormes kreatives Potential und eine ungewöhnlich starke rhythmische Begabung vorhanden ist, die sich nur ausleben kann, wenn es gelingt, die geeigneten musikalischen Formen dafür zu finden und den Behinderten geeignete Instrumente zur Verfügung zu stellen.

Elektronik statt Schlagtechnik

Zur Auswahl der Musikstücke: Musikwissenschaftlich ist erwiesen, „daß der Mensch im allgemeinen und der Behinderte im besonderen nur mit zeitgenössischer Musik in rhythmische Schwingungen versetzt werden kann", so Professor Franz Kersch-baumer von der Musikhochschule Graz. Schörkmayr folgert daraus, daß „integrative Musiktherapie zeitgemäße Musik mit zeitgemäßem Instrumentarium in zeitgemäßer Form" produzieren soll. Dabei sind öffentliche Auftritte von großer Wichtigkeit.

Der junge Musiktherapeut arbeitete am Beginn noch mit Naturperkussionsinstrumenten vom Xylophon bis zur Kesselpauke, mußte aber bald erkennen, daß es Schwerstbehinderten unmöglich ist, die richtige Schlagtechnik zu erlernen. Ein durchschnittlich begabter Schlagzeugstudent benötigt dafür fünf bis sieben Jahre an Konservatorium und Musikhochschule. Schörkmayr: „Wenn Schwerbehinderte auf Naturperkussionsinstrumenten spielen, kommt in der Regel nur ein falscher Sound heraus. Verwendet man aber ein adäquates, zeitgemäßes elektronisches Instrumentarium, ist das Erlernen der Anschlagtechnik nicht notwendig. Der behinderte Musiker kann sich dann voll auf den Rhythmus konzentrieren."

Es kommt dadurch zu einem mehrstufigen individuellen Erfolgserlebnis. Es führt den Behinderten von Erfolgserlebnissen beim Vertrautwerden mit dem Instrument über das gemeinsame Musizieren und Proben bis zum Erfolg beim öffentlichen Auftritt.

Kommunikativer Kontakt

Das Auftreten in der Öffentlichkeit, so Schörkmayr, bezieht seinen enormen therapeutischen Wert aus der Tatsache, daß es überhaupt nicht auf Benefiz- oder Mitleidcharakter gegründet ist. Die Behinderten bieten eine Kulturleistung an, „die von der Öffentlichkeit durchaus kritisch anerkannt und belohnt wird. Durch die Darbietung ihrer Musikproduktionen ist eine echte Integration Schwerbehinderter in die gesellschaftliche Öffentlichkeit gegeben."

Der kommunikative Kontakt, der bei diesen öffentlichen Konzerten eintritt, gibt nicht nur den Behinderten eine Chance zur Stabilisierung ihrer psychischen Situation, indem ihr Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl gestärkt beziehungsweise erst geweckt und dem vorhandenen Aggressionspotential entgegengetreten wird. Es erhalten darüberhinaus „gesunde" Menschen die Möglichkeit, sich ihrer Gefühls- und Kommunikationsbehinderung gegenüber Behinderten bewußt zu werden und sie aktiv zu bewältigen. Wie weit solche Gefühlsbehinderungen auch unter „Fachleuten" verbreitet sind, beweist der immer wieder vorgebrachte Einwand gegen die öffentlichen Auftritte des „no problem orchestra", daß es sich dabei um eine „entwürdigende Zur-Schau-Stel-lung" behinderter Menschen handle. Ob es - in Verfolgung solcher Gedankengänge - weniger entwürdigend ist, Behinderte von der Öffentlichkeit abzuschließen, mögen die Einwender für sich selbst beantworten.

Das gemeinsame Musizieren - sei es auf der Bühne, sei es im Studio, denn das „no problem orchestra" hat inzwischen auch schon mehrere Singles produziert - macht es den teilnehmenden Schwerstbehinderten möglich, sich einen nicht unbedeutenden Beitrag zu ihrem Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sie sind Profis und fühlen sich als solche. Die daraus resultierende Stabilisierung ihres psychischen Zustandes zeigt sich nicht zuletzt in der Tatsache, daß Antidepressiva und andere, vorher regelmäßig verabreichte Psychopharmaka im Verlauf der „No problem'-Therapie fast zur Gänze abgesetzt werden können.

Zentrum in Villach geplant

Diese nachweisbare psychische Stabilisierung führte übrigens auch zur Bezeichnung „no problem" für die Band und für die Therapie. Als langjährig aktiver Schlagzeuger in Jazz-und Rockbands kennt Schörkmayr aus eigener Erfahrung die diffizile Stimmungslage, zu der nicht behinderte Musiker durch den Streß bei öffentlichen Auftritten neigen. „Bei unseren Bandmitgliedern verhindert die therapeutische Wirkung des Musizierens das Entstehen solcher Probleme. Es lag daher auf der Hand, dies im Namen festzuhalten: no problem orchestra, No-problem-Therapie."

In Österreich wird mit ihr derzeit noch ausschließlich im No-problem-Musiktherapiezentrum in Klagenfurt (Domgasse 4) gearbeitet. In Villach soll ein zweites derartiges Zentrum entstehen. Das Orchester wurde heuer als einzige europäische Band für das legendäre Beverly Hills Festival engagiert.

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