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Muß wegen Zwentendorf die Dritte Welt hungern?

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Der Zorn über das „Nein zu Zwentendorf hat einige Vorkämpfer der Atomenergie zu ungenierten Drohungen getrieben. Vor allem die westdeutsche Industrie werde sich für den Schaden rächen, den ihr die Österreicher angetan haben, heißt es in der Hoffnung, uns das Fürchten zu lehren. Haben wir also Zwentendorf der westdeutschen Industrie zuliebe gebaut?

Die Atompropaganda wird vor allem seit dem „ölschock“ 1973/74 tatsächlich international abgestimmt, wobei die Argumente recht gut an das jeweils angesprochene Publikum angepaßt werden. Da ist einmal die Unabhängigkeit von den bösen Ölscheichs, die uns jederzeit die Pipeline abdrehen können. Atomgegner stehen vermutlich in deren Sold, oder - für ein eher kapitalismuskritisches Publikum - im Solde der Öl-Multis.

Für die Naiveren gilt der Wink mit dem Kienspan, für die Alten wird die frierende Rentnerin im kalten Stüb-chen beschworen, deren einzige Wärmequelle das Treppensteigen ist, weil der Lift nicht funktioniert. Für die Arbeiter droht Arbeitslosigkeit und für die Unternehmer der permanente Netzzusammenbruch.

Diejenigen aber, die sich durch solche Argumente nicht zur Atomenergie bekehren lassen, weil sie die Welt kennen und weil die Tatsachen ein völlig anderes Bild liefern, sollen bei ihrer Ethik und politischen Moral gepackt werden: Wenn die reichen Länder die Atomenergie nicht nützen, muß die Not der Dritten Welt noch ärger werden! Weil Österreich „Nein“ zu Zwentendorf gesagt hat, müssen noch mehr Menschen in den armen Ländern hungern!

Aber: Rund 80 Prozent aller Ressourcen werden von 20 Prozent der Weltbevölkerung in Anspruch genommen, die „restlichen“ 80 Prozent Erdbewohner müssen sich mit 20 Prozent begnügen. Oder, anders ausgedrückt, ein Durchschnittsbewohner der reichen Länder - zu denen Österreich gehört-verbraucht 16mal so viel von den nicht erneuerbaren Schätzen des Planeten wie ein Bewohner eines armen Landes.

Noch dramatischer wird das Bild, wenn man die ganz Reichen den ganz Armen gegenüber stellt: Ein in den USA geborener Mensch verbraucht während seines Lebens 500mal so viel Rohstoffe und Energie wie ein in Indien oder Zentralafrika zur Welt Gekommener - mit seiner viel geringeren Lebenserwartung! Die Anhänger des permanenten materiellen Wachstums wollen uns die primitivste Logik vergessen machen: daß die Schatzkammer unserer Erde nur einmal (für von Menschen überschaubare Zeiträume) mit Erzen, Mineralien und fossilen Brennstoffen gefüllt wurde und daß alles, was die Reichen heute wegnehmen, in Hinkunft für die Armen ebensowenig verfügbar ist wie für kommende Generationen.

Betrug der Weltenergieverbrauch 1970 noch 2,4 Milliarden Tonnen Steinkohleneinheiten, war er bis 1970 auf 6,8, 1975 auf neun Milliarden Tonnen Steinkohleeinheiten gestiegen, soll 1980 elf Milliarden und im-Jahr 2000 (als „mittlere“ Prognose) 35,4 Milliarden Tonnen Steinkohleeinheiten erreichen: also eine nahezu 15fache Steigerung in einem halben

„Die friedliche Atomnutzung ist der siamesische Zwilling der Atomrüstung.“

Jahrhundert. Jetzt kommt der Energieträger Uran an die Reihe ...

Der schlimmste Exzeß der Vergeudung, der irrsinnige Rüstungswettlauf, wird von eben jenen Leuten vorangetrieben, die in der Atomdiskussion plötzlich ihr Herz für die Hungernden der Dritten Welt entdeckt haben. 360 Milliarden Dollar wurden im Vorjahr für Rüstungszwecke ausgegeben, 400.000 Wissenschafter und Techniker - etwa die Hälfte aller Menschen dieser Beschäftigungskategorien - arbeiten in aller Welt an der Verbesserung und Entwicklung neuer Mordinstrumente. 150 Kriege wurden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geführt! Alle in Entwicklungsländern und alle mit den Waffen, an denen die Kaufleute des Todes, die Rüstungskonzerne der Industrieländer, Unsummen verdienen: 25 Milliarden Dollar betrug im Vorjahr dieser Waffenexport, und er ging fast ausschließlich in die Dritte Welt.

Will man noch mehr Beweise der Humanität? Etwa das Ausmaß der Entwicklungshilfe? Ein Prozent des Bruttonationalproduktes der reichen Länder ist das hehre Ziel. In der Tat halten wir bei einem halben Tausendstel. In den Lehren des Christentums und des Islams wird den Reichen empfohlen, ein Zehntel ihres Gutes den Armen zu geben. Doch diese Reichen denken nicht daran und investieren ihre Milliarden in die Vorbereitung des Selbstmordes unserer SPeztes - einschließlich der Armen, die in die Apokalypse eines Atomkrieges mit hineingerissen würden. Und damit sind wir wieder beim siamesischen Zwilling der Atomrüstung: der friedlichen Atomindustrie.

Die Atom-Großkonzerne in den USA, Deutschland, aber auch Großbritannien und Frankreich unternehmen mit voller Unterstützung ihrer Regierungen gewaltige Exportanstrengungen. Begreiflich, denn der Widerstand gegen neue Atomkraftwerke wächst in den eigenen Ländern.

Feindliche Nachbarn wie Nord-und Südkorea, Pakistan und Indien, Israel und Ägypten, grausame Diktaturen wie Argentinien, Brasilien, Chile, der Iran, ja selbst Libyen und das rassistische Südafrika - sie alle sollen mit Reaktoren, zum Teil auch mit Anreicherungsfabriken und Wiederaufbereitungsanlagen, beliefert werden, um damit rasch das Potential zur Atombombenproduktion zu erlangen. Günstigste Kredite, für

deren Verzinsung die Steuerzahler ,daheim aufkommen müssen, machen dieses Geschäft ebenso „risikofrei“ für die Konzerne wie das Waffengeschäft. Und dies, obwohl heute unter den meisten Fachleuten Übereinstimmung darüber herrscht, daß die Atomindustrie am wenigsten zur Lösung der Probleme der Dritten Welt geeignet ist. Ihre gewaltigen Investitionskosten, ihre komplizierte Technik, die riesigen Kraftwerkseinheiten, die große Industriegebiete als Abnehmer voraussetzen, der hohe Bedarf an Spezialisten - dies alles würde die Entwicklungsländer noch stärker in eine neokoloniale Abhängigkeit von den Industrieländern zwingen, ihre Diktatoren und korrupten Oberschichten noch mächtiger machen und das Elend der breiten Massen vergrößern, statt zu mildern.

Den erschreckendsten Einblick in die Gesinnung mancher Atomfreunde gegenüber der Dritten Welt gewann man wohl bei der großen Salzburger Konferenz der IAEO (Internationale Atomenergie-Organisation) über den Brennstoffkreislauf im Mai des Vorjahres. Da war auch von der Möglichkeit einer Atomkatastrophe („Super-Gau“) die Rede. Hatte doch Alvin Weinberg, der weltbekannte amerikanische Atomphysiker, sein Entwicklungsszenario für die Atomindustrie vorgelegt und dazu wörtlich erklärt: „In Zukunft wird der Mensch wohl lernen müssen, Strahlungskatastrophen als natürliche Ereignisse zu akzeptieren, wenn er sich für eine nukleare Zukunft entscheidet.“

In den Wandelgängen des Tagungsortes hieß es dazu tröstlich: Eine solche Katastrophe werde wohl zuerst in einem Entwicklungsland eintreten, weil dort weder das technische Wissen so ausgereift, noch die Mentalität der Menschen so sehr an die Unerbittlichkeit dieser Technologie, die „keinen Fehler verzeiht“, angepaßt sei, um fatale Irrtümer und Versagen auszuschließen....

Zum Abschluß noch eine Erinnerung: Vor 100 Jahren, am 21. Jänner 1878, wurde in Wien Egon Friedeil geboren. Er starb vor 40 Jahren, am 16. März 1938. Durch Selbstmord, heißt es. Doch das ist nur bedingt richtig. Er beging Selbstmord, weil

„Zur Lösung der sozialen Frage bedarf es einer moralischen Atomzertrümmerung.“

unmittelbar vorher Österreichs Freiheit von Hitler eingesargt worden war, weil er den Mördern, die schon auf dem Weg zu ihm waren, zuvorkommen wollte, um wenigstens auf seine Fasson zu sterben. In seiner dreibändigen Kulturgeschichte der Neuzeit (erschienen 1927-1932) schrieb er zu unserem heutigen Thema:

„Die Entbindung der intraatomi-schen Energie würde selbstverständlich eine vollkommene Umwälzung aller irdischen Verhältnisse zur Folge haben. Hingegen können nur sehr naive Personen glauben, daß dies auch die Lösung der sozialen Frage bedeuten würde. Nein: Durch die Aktivierung des Atoms würden bloß die Oberen noch gieriger, die Unteren noch ärmer, also beide noch hungriger werden und die Kriege noch bestialischer; zur Lösung der sozialen Frage bedarf es einer moralischen Emanation, Strahlenerzeugung und Atomzertrümmerung.“

Wenigstens der tote Prophet sollte ein halbes Jahrhundert später etwas im eigenen Lande gelten. Die Volksabstimmung am 5. November könnte ein Zeichen dafür sein.

Professor Paul Blau, einst Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“, ist heute Leiter des Instituts für Gesellschaftspolitik der Arbeiterkammer Wien

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