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Nach der Apo kam der Opa

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Nach der Apo, der außerparlamentarischen Opposition, gibt der Opa der Universität ein neues Gesicht. Nicht länger ist sie ausschließlich Tummelplatz junger Menschen. Österreich ist eines der ersten Länder, die das Seniorenstudium ermutigen - und das Interesse ist groß. Allerdings können nur Maturanten an Übungsveranstaltungen teilnehmen, Prüfungen ablegen und einen akademischen Grad erwerben. An der gesetzlichen Situation, die ohnehin jedem Staatsbürger Zutritt zu den Vorlesungen einräumt, ändert sich also vorerst nichts. Neu ist ein in Zusammenarbeit mit den Seniorenverbänden der Großparteien eingerichteter Beratungsservice.

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Nach der Apo, der außerparlamentarischen Opposition, gibt der Opa der Universität ein neues Gesicht. Nicht länger ist sie ausschließlich Tummelplatz junger Menschen. Österreich ist eines der ersten Länder, die das Seniorenstudium ermutigen - und das Interesse ist groß. Allerdings können nur Maturanten an Übungsveranstaltungen teilnehmen, Prüfungen ablegen und einen akademischen Grad erwerben. An der gesetzlichen Situation, die ohnehin jedem Staatsbürger Zutritt zu den Vorlesungen einräumt, ändert sich also vorerst nichts. Neu ist ein in Zusammenarbeit mit den Seniorenverbänden der Großparteien eingerichteter Beratungsservice.

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Die alte Dame läßt mich ihr Alter schätzen. Vorsichtig sage ich: „Siebzig?“ Stolz sagt sie: „Zweiundachtzig!“ Sie inskribiert an der Wiener Universität Geschichte, denn sie interessiert sich für die Habsburger und hat schon einige Bücher über Kaiserin Sissy gelesen. Sie wird allerdings an keinen Seminaren teilnehmen und zu keinen Prüfungen antreten, denn sie hat keine Matura und kann daher nur als außerordentliche Hörerin zugelassen werden.

Sie ist einer von Hunderten Menschen, die in den letzten Wochen den Pfeilen folgten, auf denen „Senioren-Beratung“ stand und die den Weg von der Portierloge der Universität Wien zürn Vorraum des kleinen Festsaales wiesen. Unmißverständlich, unverfehlbar.

Denn viele, die ihn gingen, betraten den einst als pompös abgewerteten, in den letzten zehn Jahren gemeinsam mit der ganzen Ringstraßenarchitektur zu kunsthistorischen Ehren gekommenen Bau zum ersten Mal. Und viele kamen mit der Absicht, Kunstgeschichte zu studieren. Und wenn möglich auch Vorlesungen jener Professorin Wagner-Rieger zu hören, die bei der ästhetischeh Ehrenrettung des Historismus eine wichtige Rolle gespielt hat und keineswegs vor nur „vollbesetztem“ Auditorium liest. Sondern in einem Saal, in dem man auch auf dem Fußboden keinen Sitzplatz mehr findet und dessen Tür man nach Vorlesungsbeginn kaum mehr öffnen kann.

Kunstgeschichte ist, ebenso wie Archäologie, ein besonders überlaufenes Fach an einer voll ausgelasteten und in vielen Bereichen überfüllten Universität, deren Professoren allenfalls auf Sondergebieten wie Numismatik oder Ägyptologie über Beschäftigungsmangel klagen beziehungsweise sich darüber freuen können, daß ihnen die Lehrverpflich-tungen noch Muße für echte Forschungstätigkeit lassen.

Unter den Studenten in spe, die während der Inskriptionsfrist zur Seniorenberatung kamen, wollte aber keiner Numismatik studieren. Und nur einer Ägyptologie, den aber hat keine an freien Kapazitäten orientierte Beratung dazu gebracht, son-

dern eine Ägyptenreise. Wenn er sein Vorhaben verwirklicht und regelmäßig Vorlesungen besucht, steht ihm ein Prozeß bevor, bei dem jede gefundene Antwort neue Fragen gebiert. Das ist es, was die Wissenschaft von der Schule unterscheidet. Doch gerade das ist es nicht, was die Mehrzahl der studierenden Senioren sucht.

Was aber suchen sie dann?

Eine Dame kramt umständlich in ihren Hand- und sonstigen Taschen. Die jungen Mädchen im Hörsaal werden kaum automatisch „du“ zu ihr sagen. Ein alter Herr motiviert historische Interessen mit historischen Erfahrungen. Werden die jungen Studenten der Zeitgeschichte hören wollen, was er 1918, was er 1934 erlebt hat, was 1938? Können sie seinen Blickwinkel überhaupt akzeptieren? Und erst die Schlüsse, die er aus seinen Erfahrungen zieht? Kann er es akzeptieren, wenn sie „irrelevant“ finden, was er ihnen zu sagen hat, oder wovon er glaubt, daß er es ihnen sagen muß?

„Positiv finde ich allenfalls, daß man sich selber gut vorkommt, wenn man ihnen ein paar Minuten zuhört.“

Wird es überhaupt zu einem Gespräch kommen, zum. Austausch zwischen den Generationen? Oder wird sich auf der Universität eine Subkultur der Senioren herausbü-den, in der jeder bei seinesgleichen Bestätigung sucht? Rektor Kurt Ko-marek möchte gerade das vermieden sehen Er hofft auf eine echte Koexistenz der Generationen.

Ein Mann mit grauen Schläfen und den Spuren eines harten Arbeitslebens im Gesicht, krankheitshalber frühpensioniert mit fünfzig Jahren nach einem Leben in der Krankenhausverwaltung, sucht Antwort auf die Fragen, die man „die Letzten“ nennt. Er nennt als Studienziel „reine Philosophie“. Auf die Frage, ob er an den Lehrstoff mit einer kritischen Haltung herangehen wolle, antwortet er: „Natürlich, natürlich - aber zuerst

muß man ja alles lernen!“ Wird ersieh in den Strudel kontroversieller Lehrmeinungen stürzen - oder in die Sicherheit eines Systems?

Eine Mutter, der Sohn verunglückte knapp vor der Promotion auf Kreta. Als Mitfahrer. (Wer die Insel kennt, ahnt Zusammenhänge ihrer Straßenbeschilderung mit dem Labyrinth des Minotaurus.) Sie hat ihren Sohn oft in den Hörsaal begleitet. Nun möchte sie ihrerseits Kunstgeschichte studieren. Einen Verlust, mit dem sie anders nicht fertig werden kann, durch Hereinnahme seiner Interessen in ihr Leben, durch Eintauchen in seine geistige Welt bewältigen. Die Bücher sind noch da, die Skripten. Sie wird gewarnt: Heute wird anderes gelehrt, gerade in der Kunstgeschichte wenden sich die Vortragenden immer neuen Themen zu, holen immer wieder andere Teilaspekte eines unerschöpflichen Kosmos ans Licht.

„Das bedeutet für sie eine Lebensaufgabe, für uns eine wertvolle Hilfe.“

Grundsätzlich kann es auch einem außerordentlichen Hörer niemand verwehren, überlaufene Vorlesungen zu inskribieren. Die Beraterinnen (das Rektorat und die Sertiorenver-bände der beiden Großparteien beauftragten je eine Person mit dieser Tätigkeit) können nur sachte lenken. Und in Fällen wie diesem wird es ihnen schwer, die psychologische Hürde aufzurichten, mit der sie die überlasteten Fächer umgehen.

Ein Hobby-Höhlenkundler betätigt sich seit der Pensionierung als Fremdenführer. Er möchte mehr bieten, Zusammenhänge erklären - und inskribiert Frühgeschichte.

Eine Reisebüroangestellte, im Winter am Schalter, im Sommer Reiseleiterin, möchte zwecks Verbesserung ihrer Erklärungen im Winter Kunstgeschichte hören. Aber die Vorlesungen finden dann statt, wenn sie Bürozeit hat. Der Verzicht fällt ihr schwer. Sie wird es sich „noch überlegen“. Aber das Ergebnis ist abzusehen.

In vielen Gesprächen entlädt sich ein starker Mitteilungs- und Selbstdarstellungsdrang. Viele entschuldigen sich quasi, stellen gleich klar, daß sie sich nur als Zaungäste betrachten. Viele empfinden es als Manko, einst ein Studium abgebröchen zu haben („Es waren damals so schwere Zeiten ...“), nie studiert zu haben („Man mußte ja von etwas leben ...“), keine Matura zu haben („Meine Eltern hatten leider keine Möglichkeit, mir einen höheren Schulbesuch zukommen zu lassen ...“).

Manch umständliche, geschraubte

Wendung. Resignation kommt zum Vorschein. Und die Hoffnung, die eine oder andere begrabene Hoffnung wiederbeleben und doch noch verwirklichen zu können.

Mit wenigen Minuten Abstand äußern zwei Damen den Wunsch, Hebräisch zu studieren. Althebräisch die eine - Latein und Griechisch beherrscht sie längst. Neuhebräisch die andere - eine Tochter hat nach Israel geheiratet. Sie bleiben die einzigen Interessenten für diese Sprachen).

Sprachkurse sind aber sehr gefragt. Wohl nicht zuletzt, weil Sprachkurse anderswo nicht billig sind, hier aber (fast) gratis. Nur die für Berufstätige prohibitiven Vorlesungszeiten verhindern die Umfunktionierung der Sprach-Einführungskurse zu Gra-tis-Sprachschulen für jedermann ...

Der Beratungsdienst wird fortgeführt. Vor jedem Semester während der Inskriptionsfrist. Er wird vorerst auf die Senioren beschränkt bleiben, denn die Seniorenverbände tragen die (sehr geringen) Kosten. So bleibt die Frage offen, ob der Forcierung des Seniorenstudiums die nicht minder wichtige Propagierung des Erwachsenenstudiums im weiteren Sinne folgt. In den USA sitzen längst Mütter aller Altersgruppen mit ihren Kindern in den Hörsälen.

Bei uns wären, um eine ähnliche Entwicklung in Gang zu setzen (aber wären ihr unsere Universitäten räumlich und personell gewachsen?) nicht nur Kommunikationsprobleme zu lösen, sondern auch die Zulassungsbestimmungen für ordentliche Hörer zu reformieren. Neue Bestimmungen über das vielzitierte „Studium ohne Matura“ haben einen Spalt in der Tür aufgemacht, Rektor Komarek sähe ihn gerne ein wenig breiter. Vor allem für Menschen, die „aus reinem Interesse“ studieren.

Andererseits: So begrüßenswert es ist, daß älteren Menschen Gelegenheit zu Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung geboten wird - der durch breitgestreute Aufklärung über die Zulassungsmöglichkeit vor allem als außerordentlicher Hörer herbeigeführte Zustrom schafft auch Probleme.

Raumprobleme: Sie wären theoretisch am leichtesten zu lösen. Rektor Komarek denkt etwa an kunstgeschichtliche Parallelveranstaltungen, „aber nur gemischt, nicht als Seniorengetto“. (In der DDR gingeh Versuche mit Spezialvorlesungen für ältere Menschen total daneben.)

Generationsprobleme: Ein Teil der jungen Hörer denkt über die Senioren-Kollegen nicht sehr freundlich, etwa so wie ein Theaterwissenschaftler, der meinte: „Positiv finde ich allenfalls, daß man sich selber gut vorkommt, wenn man ihnen einmal ein paar Minuten zuhört, denn dafür sind sie ja so dankbar.“

Ein Student der Zeitgeschichte: „Ältere Menschen haben uns etwas zu sagen, wenn sie noch lebendig

sind und nicht stur auf ihrem Standpunkt beharren und unsere Sicht der Dinge abkanzeln. Anderenfalls kommt es schon auch einmal zu Verbalaggressionen.“

Hingegen ein junger Jurist: „Manche unserer Senioren schreiben besonders genau mit und stellen uns die Mitschriften zur Verfügung, die sind oft besser als die Skripten der Hochschülerschaft Das bedeutet für die älteren Kollegen eine Lebensaufgabe und für uns eine wertvolle Hilfe.“

„Ich möchte Psychologie studieren, weil ich erfahren möchte, was es mit der Seele auf sich hat.“

Oder ein Volkswirtschaftler: „Wir hatten einen Vortragenden, der besonders abstrakt und nebulos und dabei unverständlich schnell sprach, und wir waren einern pensionierten Schuldirektor sehr dankbar dafür, daß er ihm sagte: So kann man das nicht machen! Von.uns hätte sich das keiner getraut.“

Probleme, die durch eine illusionistische Erwartungshaltung entstehen: Wer im Alter ein Zweit- oder Drittstudium absolviert, kennt natürlich den Uni-Betrieb. Hingegen haben Menschen, die im fortgeschrittenen Alter zum ersten Mal eine Universität betreten, vor allem außerordentliche Hörer, oft völlig unrealistische Vorstellungen davon, wie es dort zugeht. Viele, die zur Beratung kamen, hatten kaum ein wissenschaftliches Buch über das Gebiet gelesen, das sie studieren wollten, rechneten gar nicht mit der Notwendigkeit, das tun zu müssen Sie kommen mit einer extrem passiven Einstellung.

Andere erwarten sich von der Universität Antworten in letzter Instanz auf alle sie bedrängenden Fragen. So wie jene Dame, die zur Beraterin sagte: „Ich möchte Psychologie studieren, weil ich erfahren möchte, was es mit der menschlichen Seele auf sich hat!“

Nur ein Teü der Interessenten „bleibt hängen“. Manche verzichten nach der Beratung auf die Inskription. Häufiger: Einige Vorlesungen besuchen, dann wegbleiben.

Mancher, manchem hätte die Volkshochschule viel mehr zu bieten als die Universität. Aber ein großer Teil der Senioren, die zur Beratung kamen, wül von der Volkshochschule nichts wissen. Denn die Volkshochschule hat zu wenig Sozialprestige. Genau das hat die Universität zu bieten. Und genau das ist es auch, worauf es vielen Universitätshörern ankommt - neben der Selbstverwirklichung.

Freilich nicht nur den außerordentlichen. Und auch keineswegs immer nur den alten.

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